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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
Kultur, der Menschheit zur ewigen Schmach, ins Werk gesetzt. Wie
urteilt nun einer der hervorragendsten Katholiken unseres Jahrhunderts
über diesen merkwürdigen Vorgang, über diese Verwilderung von
Menschen, die sich früher, als angebliche Barbaren, so human gezeigt
hatten? "Es war", sagt er, "ein Sieg, welchen das altrömische Kaiser-
recht über den germanischen Geist errang."1)

Wollen wir nun die notwendige Beschränkung des Begriffes
"Germane" durchführen, d. h. das Germanische von dem Ungermani-
schen scheiden, so müssen wir erst, wie ich es im Anfang dieses
Kapitels versuchte, klare Vorstellungen über die zu Grunde liegenden
Charakter- und Geisteseigenschaften des Germanen zu gewinnen suchen
und sodann, wie jetzt eben an einem Beispiel angedeutet, dem Gange
der Geschichte mit kritischem Blicke folgen. Derlei "Siege über den
germanischen Geist" wurden nämlich viele gewonnen, manche nur
mit vorübergehendem Erfolg, manche so gründlich, dass edle Völker
auf ewig aus dem germanischen Verbande schwanden und einem
progressiven Verfall anheimfielen. Denn dieser unter so verwickelten,
widerspruchsvollen, durch und durch verrotteten Verhältnissen in die
Weltgeschichte eingetretene Germane ist sich selber entfremdet worden.
Alles wurde ja in Bewegung gesetzt, um ihn zu bethören: nicht
allein die Leidenschaften, die Habgier, die Herrschsucht, alle die
schlimmen Untugenden, die ihm mit Anderen gemeinsam sind, nein,
auch sein besseres Teil wurde zu diesem Zweck geschickt bearbeitet:
seine mystischen Regungen, sein Wissensdurst, seine Glaubenskraft,
sein Schaffensdrang, seine hohen organisatorischen und gestaltenden
Eigenschaften, sein edler Ehrgeiz, sein Bedürfnis nach Idealen -- -- --
Alles wurde gegen ihn selber ausgebeutet. Zwar nicht als ein Barbar,
wohl aber als ein Kind war der Germane in die Weltgeschichte ein-
getreten, als ein Kind, das alten erfahrenen Wüstlingen in die Hände
fällt. Daher kommt es, dass wir das Ungermanische in dem Herzen
der besten Germanen eingenistet finden, wo es, dank germanischem
Ernst und germanischer Treue, oft festere Wurzel fasste als sonst an
irgend einem Ort; daher aber auch die grosse Schwierigkeit, unsere
Geschichte zu enträtseln. Montesquieu sagte uns z. B. vorhin, der
Germane sei durch den Verlust seiner Freiheit später Barbar geworden:
doch wer raubte sie ihm? Das Völkerchaos im Bunde mit ihm selber.

1) Döllinger: Die Geschichte der religiösen Freiheit (in seinen akademischen
Vorträgen, III, 278).

Die Erben.
Kultur, der Menschheit zur ewigen Schmach, ins Werk gesetzt. Wie
urteilt nun einer der hervorragendsten Katholiken unseres Jahrhunderts
über diesen merkwürdigen Vorgang, über diese Verwilderung von
Menschen, die sich früher, als angebliche Barbaren, so human gezeigt
hatten? »Es war«, sagt er, »ein Sieg, welchen das altrömische Kaiser-
recht über den germanischen Geist errang.«1)

Wollen wir nun die notwendige Beschränkung des Begriffes
»Germane« durchführen, d. h. das Germanische von dem Ungermani-
schen scheiden, so müssen wir erst, wie ich es im Anfang dieses
Kapitels versuchte, klare Vorstellungen über die zu Grunde liegenden
Charakter- und Geisteseigenschaften des Germanen zu gewinnen suchen
und sodann, wie jetzt eben an einem Beispiel angedeutet, dem Gange
der Geschichte mit kritischem Blicke folgen. Derlei »Siege über den
germanischen Geist« wurden nämlich viele gewonnen, manche nur
mit vorübergehendem Erfolg, manche so gründlich, dass edle Völker
auf ewig aus dem germanischen Verbande schwanden und einem
progressiven Verfall anheimfielen. Denn dieser unter so verwickelten,
widerspruchsvollen, durch und durch verrotteten Verhältnissen in die
Weltgeschichte eingetretene Germane ist sich selber entfremdet worden.
Alles wurde ja in Bewegung gesetzt, um ihn zu bethören: nicht
allein die Leidenschaften, die Habgier, die Herrschsucht, alle die
schlimmen Untugenden, die ihm mit Anderen gemeinsam sind, nein,
auch sein besseres Teil wurde zu diesem Zweck geschickt bearbeitet:
seine mystischen Regungen, sein Wissensdurst, seine Glaubenskraft,
sein Schaffensdrang, seine hohen organisatorischen und gestaltenden
Eigenschaften, sein edler Ehrgeiz, sein Bedürfnis nach Idealen — — —
Alles wurde gegen ihn selber ausgebeutet. Zwar nicht als ein Barbar,
wohl aber als ein Kind war der Germane in die Weltgeschichte ein-
getreten, als ein Kind, das alten erfahrenen Wüstlingen in die Hände
fällt. Daher kommt es, dass wir das Ungermanische in dem Herzen
der besten Germanen eingenistet finden, wo es, dank germanischem
Ernst und germanischer Treue, oft festere Wurzel fasste als sonst an
irgend einem Ort; daher aber auch die grosse Schwierigkeit, unsere
Geschichte zu enträtseln. Montesquieu sagte uns z. B. vorhin, der
Germane sei durch den Verlust seiner Freiheit später Barbar geworden:
doch wer raubte sie ihm? Das Völkerchaos im Bunde mit ihm selber.

1) Döllinger: Die Geschichte der religiösen Freiheit (in seinen akademischen
Vorträgen, III, 278).
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[516/0539] Die Erben. Kultur, der Menschheit zur ewigen Schmach, ins Werk gesetzt. Wie urteilt nun einer der hervorragendsten Katholiken unseres Jahrhunderts über diesen merkwürdigen Vorgang, über diese Verwilderung von Menschen, die sich früher, als angebliche Barbaren, so human gezeigt hatten? »Es war«, sagt er, »ein Sieg, welchen das altrömische Kaiser- recht über den germanischen Geist errang.« 1) Wollen wir nun die notwendige Beschränkung des Begriffes »Germane« durchführen, d. h. das Germanische von dem Ungermani- schen scheiden, so müssen wir erst, wie ich es im Anfang dieses Kapitels versuchte, klare Vorstellungen über die zu Grunde liegenden Charakter- und Geisteseigenschaften des Germanen zu gewinnen suchen und sodann, wie jetzt eben an einem Beispiel angedeutet, dem Gange der Geschichte mit kritischem Blicke folgen. Derlei »Siege über den germanischen Geist« wurden nämlich viele gewonnen, manche nur mit vorübergehendem Erfolg, manche so gründlich, dass edle Völker auf ewig aus dem germanischen Verbande schwanden und einem progressiven Verfall anheimfielen. Denn dieser unter so verwickelten, widerspruchsvollen, durch und durch verrotteten Verhältnissen in die Weltgeschichte eingetretene Germane ist sich selber entfremdet worden. Alles wurde ja in Bewegung gesetzt, um ihn zu bethören: nicht allein die Leidenschaften, die Habgier, die Herrschsucht, alle die schlimmen Untugenden, die ihm mit Anderen gemeinsam sind, nein, auch sein besseres Teil wurde zu diesem Zweck geschickt bearbeitet: seine mystischen Regungen, sein Wissensdurst, seine Glaubenskraft, sein Schaffensdrang, seine hohen organisatorischen und gestaltenden Eigenschaften, sein edler Ehrgeiz, sein Bedürfnis nach Idealen — — — Alles wurde gegen ihn selber ausgebeutet. Zwar nicht als ein Barbar, wohl aber als ein Kind war der Germane in die Weltgeschichte ein- getreten, als ein Kind, das alten erfahrenen Wüstlingen in die Hände fällt. Daher kommt es, dass wir das Ungermanische in dem Herzen der besten Germanen eingenistet finden, wo es, dank germanischem Ernst und germanischer Treue, oft festere Wurzel fasste als sonst an irgend einem Ort; daher aber auch die grosse Schwierigkeit, unsere Geschichte zu enträtseln. Montesquieu sagte uns z. B. vorhin, der Germane sei durch den Verlust seiner Freiheit später Barbar geworden: doch wer raubte sie ihm? Das Völkerchaos im Bunde mit ihm selber. 1) Döllinger: Die Geschichte der religiösen Freiheit (in seinen akademischen Vorträgen, III, 278).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/539>, abgerufen am 24.11.2024.