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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
nicht jeder Christ des 19. Jahrhunderts von sich behaupten könnte.1)
Und nun kommt das wirklich Entscheidende -- nicht der öde Streit
über Homousie und Homöusie, den schon Kaiser Constantin für
"müssig" erklärt hatte -- sondern das treue Festhalten an dem einmal
Erwählten und die Betonung der germanischen Eigenart und des
Rechtes der Selbstbestimmung dem Fremden gegenüber. Wenn die
Germanen wirklich solche willenlose Barbaren gewesen wären, wie
Dahn sie darstellt, eben so bereit, den Osiriskult anzunehmen wie
irgend einen anderen Glauben, wie kommt es, dass sie im 4. Jahr-
hundert alle (Langobarden, Goten, Vandalen, Burgunder u. s. w.) den
Arianismus annahmen und, während er anderswo kaum fünfzig Jahre
sich behauptete, ihm, allein unter allen Menschen, Jahrhunderte lang
treu blieben? Theologisches erblicke ich beileibe nicht darin, noch
lege ich den geringsten Wert auf jene Spitzfindigkeiten, die man aus
Allem und Jedem herausklügeln kann, um eine vorgefasste These
durchzuführen, sondern mein Augenmerk richte ich einzig auf die ganz
grossen Charakterthatsachen und ich sehe hier wiederum: Treue und
Unabhängigkeit. Ich sehe hier die Germanen die Lossagung von Rom
tausend Jahre vor Wyclif instinktiv durchführen, zu einer Zeit, wo
Rom als Kirche sich vom Kaiseramte noch gar nicht klar geschieden
hatte, und vermag in einer solchen Erscheinung weder einen Zufall,
noch eine "Nebensache"2) zu erblicken. Wie wenig nebensächlich
diese religiöse Erscheinung ist, geht aus Karl Müller's Darstellung
hervor (Kirchengeschichte, 1892, I. 263), wo wir in Bezug auf die
arianischen Germanen lesen: "Jedes Reich hat seine eigene Kirche.
Kirchliche Verbände im Stil der katholischen Kirche giebt es nicht. ...
Die neuen Priester ... sind Bestandteile der Stammes- und Volks-
organisation gewesen. Der Bildungsstand des Klerus ist natürlich ein
ganz anderer, als der des katholischen: rein national germanisch,
ohne Berührung mit der kirchlichen und profanen Kultur der alten
Welt. Dagegen steht nach allen christlichen Zeugnissen Sitte und
Sittlichkeit der arischen Germanen unermesslich höher als die der

1) Wie charakteristisch gerade das Bibelstudium für die Goten war, kann
man bei Neander: Kirchengeschichte, 4. Auflage, III, 199 lesen. Neander citiert
u. a. einen Brief, in welchem Hieronymus sein Erstaunen darüber ausspricht, wie
"die barbarische Zunge der Gothen nach dem reinen Sinne der hebräischen Ur-
schrift forsche", während man im Süden "sich gar nicht darum kümmere". Das
war schon im Jahre 403!
2) Dahn: 2. Auflage von Wietersheim's Völkerwanderung, II, 60.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 33

Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
nicht jeder Christ des 19. Jahrhunderts von sich behaupten könnte.1)
Und nun kommt das wirklich Entscheidende — nicht der öde Streit
über Homousie und Homöusie, den schon Kaiser Constantin für
»müssig« erklärt hatte — sondern das treue Festhalten an dem einmal
Erwählten und die Betonung der germanischen Eigenart und des
Rechtes der Selbstbestimmung dem Fremden gegenüber. Wenn die
Germanen wirklich solche willenlose Barbaren gewesen wären, wie
Dahn sie darstellt, eben so bereit, den Osiriskult anzunehmen wie
irgend einen anderen Glauben, wie kommt es, dass sie im 4. Jahr-
hundert alle (Langobarden, Goten, Vandalen, Burgunder u. s. w.) den
Arianismus annahmen und, während er anderswo kaum fünfzig Jahre
sich behauptete, ihm, allein unter allen Menschen, Jahrhunderte lang
treu blieben? Theologisches erblicke ich beileibe nicht darin, noch
lege ich den geringsten Wert auf jene Spitzfindigkeiten, die man aus
Allem und Jedem herausklügeln kann, um eine vorgefasste These
durchzuführen, sondern mein Augenmerk richte ich einzig auf die ganz
grossen Charakterthatsachen und ich sehe hier wiederum: Treue und
Unabhängigkeit. Ich sehe hier die Germanen die Lossagung von Rom
tausend Jahre vor Wyclif instinktiv durchführen, zu einer Zeit, wo
Rom als Kirche sich vom Kaiseramte noch gar nicht klar geschieden
hatte, und vermag in einer solchen Erscheinung weder einen Zufall,
noch eine »Nebensache«2) zu erblicken. Wie wenig nebensächlich
diese religiöse Erscheinung ist, geht aus Karl Müller’s Darstellung
hervor (Kirchengeschichte, 1892, I. 263), wo wir in Bezug auf die
arianischen Germanen lesen: »Jedes Reich hat seine eigene Kirche.
Kirchliche Verbände im Stil der katholischen Kirche giebt es nicht. …
Die neuen Priester … sind Bestandteile der Stammes- und Volks-
organisation gewesen. Der Bildungsstand des Klerus ist natürlich ein
ganz anderer, als der des katholischen: rein national germanisch,
ohne Berührung mit der kirchlichen und profanen Kultur der alten
Welt. Dagegen steht nach allen christlichen Zeugnissen Sitte und
Sittlichkeit der arischen Germanen unermesslich höher als die der

1) Wie charakteristisch gerade das Bibelstudium für die Goten war, kann
man bei Neander: Kirchengeschichte, 4. Auflage, III, 199 lesen. Neander citiert
u. a. einen Brief, in welchem Hieronymus sein Erstaunen darüber ausspricht, wie
»die barbarische Zunge der Gothen nach dem reinen Sinne der hebräischen Ur-
schrift forsche«, während man im Süden »sich gar nicht darum kümmere«. Das
war schon im Jahre 403!
2) Dahn: 2. Auflage von Wietersheim’s Völkerwanderung, II, 60.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 33
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[513/0536] Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte. nicht jeder Christ des 19. Jahrhunderts von sich behaupten könnte. 1) Und nun kommt das wirklich Entscheidende — nicht der öde Streit über Homousie und Homöusie, den schon Kaiser Constantin für »müssig« erklärt hatte — sondern das treue Festhalten an dem einmal Erwählten und die Betonung der germanischen Eigenart und des Rechtes der Selbstbestimmung dem Fremden gegenüber. Wenn die Germanen wirklich solche willenlose Barbaren gewesen wären, wie Dahn sie darstellt, eben so bereit, den Osiriskult anzunehmen wie irgend einen anderen Glauben, wie kommt es, dass sie im 4. Jahr- hundert alle (Langobarden, Goten, Vandalen, Burgunder u. s. w.) den Arianismus annahmen und, während er anderswo kaum fünfzig Jahre sich behauptete, ihm, allein unter allen Menschen, Jahrhunderte lang treu blieben? Theologisches erblicke ich beileibe nicht darin, noch lege ich den geringsten Wert auf jene Spitzfindigkeiten, die man aus Allem und Jedem herausklügeln kann, um eine vorgefasste These durchzuführen, sondern mein Augenmerk richte ich einzig auf die ganz grossen Charakterthatsachen und ich sehe hier wiederum: Treue und Unabhängigkeit. Ich sehe hier die Germanen die Lossagung von Rom tausend Jahre vor Wyclif instinktiv durchführen, zu einer Zeit, wo Rom als Kirche sich vom Kaiseramte noch gar nicht klar geschieden hatte, und vermag in einer solchen Erscheinung weder einen Zufall, noch eine »Nebensache« 2) zu erblicken. Wie wenig nebensächlich diese religiöse Erscheinung ist, geht aus Karl Müller’s Darstellung hervor (Kirchengeschichte, 1892, I. 263), wo wir in Bezug auf die arianischen Germanen lesen: »Jedes Reich hat seine eigene Kirche. Kirchliche Verbände im Stil der katholischen Kirche giebt es nicht. … Die neuen Priester … sind Bestandteile der Stammes- und Volks- organisation gewesen. Der Bildungsstand des Klerus ist natürlich ein ganz anderer, als der des katholischen: rein national germanisch, ohne Berührung mit der kirchlichen und profanen Kultur der alten Welt. Dagegen steht nach allen christlichen Zeugnissen Sitte und Sittlichkeit der arischen Germanen unermesslich höher als die der 1) Wie charakteristisch gerade das Bibelstudium für die Goten war, kann man bei Neander: Kirchengeschichte, 4. Auflage, III, 199 lesen. Neander citiert u. a. einen Brief, in welchem Hieronymus sein Erstaunen darüber ausspricht, wie »die barbarische Zunge der Gothen nach dem reinen Sinne der hebräischen Ur- schrift forsche«, während man im Süden »sich gar nicht darum kümmere«. Das war schon im Jahre 403! 2) Dahn: 2. Auflage von Wietersheim’s Völkerwanderung, II, 60. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 33

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/536>, abgerufen am 24.11.2024.