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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
die ganze Masse als Instinkt verbreitet, Staaten bildet und dem Einzelnen
das schenkt, was der gesamten Natur bisher unbekannt geblieben war:
die Idee der Freiheit. Sobald wir das einsehen, fällt die nahe Verwandt-
schaft der Germanen mit den Hellenen und Römern auf, zugleich er-
kennen wir das sie Unterscheidende. Bei den Griechen überwiegt das
individualistisch Schöpferische sogar bis in die Staatenbildung; bei den
Römern ist die kommunistische Kraft der die Freiheit verleihenden
Gesetzgebung, der die Freiheit verteidigenden Kriegsgewalt das Vor-
herrschende; den Germanen dagegen ist vielleicht eine geringere Ge-
staltungskraft zu eigen, sowohl dem Einzelnen wie dem Gesamt-
körper, doch besitzen sie eine Harmonie der Beanlagung, ein Gleich-
gewicht zwischen dem Freiheitsdrang des Einzelnen, welcher in der
freischöpferischen Kunst seinen höchsten Ausdruck findet,1) und dem
Freiheitsdrang der Gesamtheit, der den Staat schafft, durch welche
sie sich den grössten Vorgängern ebenbürtig erweisen. Formvoll-
endeteres vielleicht, doch nicht Gewaltigeres schuf je eine Kunst als
die, welche zwischen der beschwingten Feder Shakespeare's und dem
Ätzgriffel Albrecht Dürer's alles Menschliche einschliesst, und welche in
ihrer ureigensten Sprache, der Musik, tiefer ins innerste Herz hinein-
greift als jeder vorangegangene Versuch, aus Sterblichem Unsterbliches zu
schaffen, Stoff zu Geist umzuwandeln. Und inzwischen bewährten sich
die von Germanen gegründeten Staaten Europas, trotz ihres gewisser-
massen improvisierten, ewig provisorischen, wechselreichen Charakters --
eher, sollte ich wohl sagen, dank diesem Charakter -- als die dauer-
haftesten der Welt, auch als die machtvollsten. Trotz Kriegesstürmen,
trotz der Bethörungen jenes Erbfeindes, des Völkerchaos, der das Gift
bis in das Herz unserer Nationen hineintrug, blieben Freiheit und ihr
Korrelat, der Staat, wenn auch manchmal das Gleichgewicht zwischen
beiden arg gestört schien, doch durch alle Zeiten hindurch das ge-
staltende und erhaltende Ideal: deutlicher als je erkennen wir das heute.

Damit das stattfinde, musste sich nun jener zu Grunde liegenden,
gemeinsamen "arischen" Anlage zu freier Schöpfungskraft ein weiterer
Zug beigesellen: die unvergleichliche und durchaus eigenartige ger-
manische Treue.
War jene geistige und körperliche Entwickelung,
die bis zur Idee der Freiheit führt, und auf der einen Seite Kunst,
Philosophie und Wissenschaft, auf der anderen Staaten (sowie Alles,
was an Kulturerscheinungen unter diesem Begriff sich subsummieren

1) Siehe S. 53, 62, 69 u. s. w.

Die Erben.
die ganze Masse als Instinkt verbreitet, Staaten bildet und dem Einzelnen
das schenkt, was der gesamten Natur bisher unbekannt geblieben war:
die Idee der Freiheit. Sobald wir das einsehen, fällt die nahe Verwandt-
schaft der Germanen mit den Hellenen und Römern auf, zugleich er-
kennen wir das sie Unterscheidende. Bei den Griechen überwiegt das
individualistisch Schöpferische sogar bis in die Staatenbildung; bei den
Römern ist die kommunistische Kraft der die Freiheit verleihenden
Gesetzgebung, der die Freiheit verteidigenden Kriegsgewalt das Vor-
herrschende; den Germanen dagegen ist vielleicht eine geringere Ge-
staltungskraft zu eigen, sowohl dem Einzelnen wie dem Gesamt-
körper, doch besitzen sie eine Harmonie der Beanlagung, ein Gleich-
gewicht zwischen dem Freiheitsdrang des Einzelnen, welcher in der
freischöpferischen Kunst seinen höchsten Ausdruck findet,1) und dem
Freiheitsdrang der Gesamtheit, der den Staat schafft, durch welche
sie sich den grössten Vorgängern ebenbürtig erweisen. Formvoll-
endeteres vielleicht, doch nicht Gewaltigeres schuf je eine Kunst als
die, welche zwischen der beschwingten Feder Shakespeare’s und dem
Ätzgriffel Albrecht Dürer’s alles Menschliche einschliesst, und welche in
ihrer ureigensten Sprache, der Musik, tiefer ins innerste Herz hinein-
greift als jeder vorangegangene Versuch, aus Sterblichem Unsterbliches zu
schaffen, Stoff zu Geist umzuwandeln. Und inzwischen bewährten sich
die von Germanen gegründeten Staaten Europas, trotz ihres gewisser-
massen improvisierten, ewig provisorischen, wechselreichen Charakters —
eher, sollte ich wohl sagen, dank diesem Charakter — als die dauer-
haftesten der Welt, auch als die machtvollsten. Trotz Kriegesstürmen,
trotz der Bethörungen jenes Erbfeindes, des Völkerchaos, der das Gift
bis in das Herz unserer Nationen hineintrug, blieben Freiheit und ihr
Korrelat, der Staat, wenn auch manchmal das Gleichgewicht zwischen
beiden arg gestört schien, doch durch alle Zeiten hindurch das ge-
staltende und erhaltende Ideal: deutlicher als je erkennen wir das heute.

Damit das stattfinde, musste sich nun jener zu Grunde liegenden,
gemeinsamen »arischen« Anlage zu freier Schöpfungskraft ein weiterer
Zug beigesellen: die unvergleichliche und durchaus eigenartige ger-
manische Treue.
War jene geistige und körperliche Entwickelung,
die bis zur Idee der Freiheit führt, und auf der einen Seite Kunst,
Philosophie und Wissenschaft, auf der anderen Staaten (sowie Alles,
was an Kulturerscheinungen unter diesem Begriff sich subsummieren

1) Siehe S. 53, 62, 69 u. s. w.
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[504/0527] Die Erben. die ganze Masse als Instinkt verbreitet, Staaten bildet und dem Einzelnen das schenkt, was der gesamten Natur bisher unbekannt geblieben war: die Idee der Freiheit. Sobald wir das einsehen, fällt die nahe Verwandt- schaft der Germanen mit den Hellenen und Römern auf, zugleich er- kennen wir das sie Unterscheidende. Bei den Griechen überwiegt das individualistisch Schöpferische sogar bis in die Staatenbildung; bei den Römern ist die kommunistische Kraft der die Freiheit verleihenden Gesetzgebung, der die Freiheit verteidigenden Kriegsgewalt das Vor- herrschende; den Germanen dagegen ist vielleicht eine geringere Ge- staltungskraft zu eigen, sowohl dem Einzelnen wie dem Gesamt- körper, doch besitzen sie eine Harmonie der Beanlagung, ein Gleich- gewicht zwischen dem Freiheitsdrang des Einzelnen, welcher in der freischöpferischen Kunst seinen höchsten Ausdruck findet, 1) und dem Freiheitsdrang der Gesamtheit, der den Staat schafft, durch welche sie sich den grössten Vorgängern ebenbürtig erweisen. Formvoll- endeteres vielleicht, doch nicht Gewaltigeres schuf je eine Kunst als die, welche zwischen der beschwingten Feder Shakespeare’s und dem Ätzgriffel Albrecht Dürer’s alles Menschliche einschliesst, und welche in ihrer ureigensten Sprache, der Musik, tiefer ins innerste Herz hinein- greift als jeder vorangegangene Versuch, aus Sterblichem Unsterbliches zu schaffen, Stoff zu Geist umzuwandeln. Und inzwischen bewährten sich die von Germanen gegründeten Staaten Europas, trotz ihres gewisser- massen improvisierten, ewig provisorischen, wechselreichen Charakters — eher, sollte ich wohl sagen, dank diesem Charakter — als die dauer- haftesten der Welt, auch als die machtvollsten. Trotz Kriegesstürmen, trotz der Bethörungen jenes Erbfeindes, des Völkerchaos, der das Gift bis in das Herz unserer Nationen hineintrug, blieben Freiheit und ihr Korrelat, der Staat, wenn auch manchmal das Gleichgewicht zwischen beiden arg gestört schien, doch durch alle Zeiten hindurch das ge- staltende und erhaltende Ideal: deutlicher als je erkennen wir das heute. Damit das stattfinde, musste sich nun jener zu Grunde liegenden, gemeinsamen »arischen« Anlage zu freier Schöpfungskraft ein weiterer Zug beigesellen: die unvergleichliche und durchaus eigenartige ger- manische Treue. War jene geistige und körperliche Entwickelung, die bis zur Idee der Freiheit führt, und auf der einen Seite Kunst, Philosophie und Wissenschaft, auf der anderen Staaten (sowie Alles, was an Kulturerscheinungen unter diesem Begriff sich subsummieren 1) Siehe S. 53, 62, 69 u. s. w.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 504. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/527>, abgerufen am 24.11.2024.