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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
in Folge dessen auch eine Menge Ideen, eine Menge Arten zu denken
und zu handeln, die halb-, viertel-, sechzehntel-germanisch oder auch
direkt antigermanisch sind. Einzig die Übung in der Unterscheidung
des Reingermanischen und des absolut Ungermanischen kann lehren,
sich in diesem angehenden Chaos zurecht zu finden. Überall ist das
Chaos der gefährlichste Feind. Ihm gegenüber muss der Gedanke
zu einer That werden; hierzu ist die Klarheit der Vorstellungen der
erste unerlässliche Schritt; und auf dem Gebiet, welches wir augen-
blicklich durchwandern, besteht die Klarheit zunächst in der Er-
kenntnis, dass unser Germanentum heute eine grosse Menge un-
germanischer Elemente enthält, und in dem Versuch, das Reine von
dem mit fremden (in keinem Sinne germanischen) Bestandteilen
Gemischten zu scheiden.

Doch, wie sehr zu diesem Behufe die Betonung des Anatomischen
auch berechtigt sein mag, ich fürchte, allein wird dieses Anatomische
nicht ausreichen; im Gegenteil, gerade hier wird augenblicklich die
Wissenschaft auf einem Meer von Konfusionen und Irrtümern hin-
und hergeworfen; wer sich von ihren Wahngebilden ergreifen lässt,
muss sich dann zuletzt hineinstürzen. Denn das, was ich eben dar-
legte von den verschiedenen Rassen, die aus vorarischen Zeiten in
Europa übrig blieben, den Iberern, Rhätiern u. s. w., wenn auch
entschieden richtig in den wesentlichsten Zügen, stellt nur die
denkbar schlichteste Vereinfachung der Hypothesen dar, welche heute
hundertfältig durch die Luft schwirren; und täglich wird die Sache
komplizierter. So haben -- um dem Laien nur ein einziges Beispiel
zu geben -- lange, sorgfältige Untersuchungen zu der Annahme ge-
führt, dass es in Schottland in der ältesten Steinzeit eine langköpfige
Menschenrasse gab, dass aber später, in der jüngeren Steinzeit, eine
andere, ausserordentlich breitköpfige auftrat, welche dann, vermengt
mit jener ersten und mit Mischformen, für die Bronzezeit bezeichnend
wird; das alles spielte sich in unvordenklichen Zeiten ab, lange vor
der Ankunft der Kelten; nun trafen die Kelten, als Vorhut der
Germanen ein, und es ist wohl kaum zu zweifeln, dass sie durch
den Kontakt mit dieser früher ansässigen Rasse Modifikationen er-
litten, da noch heute, nachdem so viele und so starke Menschenwellen
über jenes Land hinweggespült haben, man in vielen Individuen
Merkmale findet, die (so sagt ein Fachgelehrter) unmittelbar und un-
zweifelhaft auf jene schon aus der Vermengung von Lang- und Kurz-
köpfen hervorgegangene prähistorische Rasse aus der Bronzezeit zurück-

Die Erben.
in Folge dessen auch eine Menge Ideen, eine Menge Arten zu denken
und zu handeln, die halb-, viertel-, sechzehntel-germanisch oder auch
direkt antigermanisch sind. Einzig die Übung in der Unterscheidung
des Reingermanischen und des absolut Ungermanischen kann lehren,
sich in diesem angehenden Chaos zurecht zu finden. Überall ist das
Chaos der gefährlichste Feind. Ihm gegenüber muss der Gedanke
zu einer That werden; hierzu ist die Klarheit der Vorstellungen der
erste unerlässliche Schritt; und auf dem Gebiet, welches wir augen-
blicklich durchwandern, besteht die Klarheit zunächst in der Er-
kenntnis, dass unser Germanentum heute eine grosse Menge un-
germanischer Elemente enthält, und in dem Versuch, das Reine von
dem mit fremden (in keinem Sinne germanischen) Bestandteilen
Gemischten zu scheiden.

Doch, wie sehr zu diesem Behufe die Betonung des Anatomischen
auch berechtigt sein mag, ich fürchte, allein wird dieses Anatomische
nicht ausreichen; im Gegenteil, gerade hier wird augenblicklich die
Wissenschaft auf einem Meer von Konfusionen und Irrtümern hin-
und hergeworfen; wer sich von ihren Wahngebilden ergreifen lässt,
muss sich dann zuletzt hineinstürzen. Denn das, was ich eben dar-
legte von den verschiedenen Rassen, die aus vorarischen Zeiten in
Europa übrig blieben, den Iberern, Rhätiern u. s. w., wenn auch
entschieden richtig in den wesentlichsten Zügen, stellt nur die
denkbar schlichteste Vereinfachung der Hypothesen dar, welche heute
hundertfältig durch die Luft schwirren; und täglich wird die Sache
komplizierter. So haben — um dem Laien nur ein einziges Beispiel
zu geben — lange, sorgfältige Untersuchungen zu der Annahme ge-
führt, dass es in Schottland in der ältesten Steinzeit eine langköpfige
Menschenrasse gab, dass aber später, in der jüngeren Steinzeit, eine
andere, ausserordentlich breitköpfige auftrat, welche dann, vermengt
mit jener ersten und mit Mischformen, für die Bronzezeit bezeichnend
wird; das alles spielte sich in unvordenklichen Zeiten ab, lange vor
der Ankunft der Kelten; nun trafen die Kelten, als Vorhut der
Germanen ein, und es ist wohl kaum zu zweifeln, dass sie durch
den Kontakt mit dieser früher ansässigen Rasse Modifikationen er-
litten, da noch heute, nachdem so viele und so starke Menschenwellen
über jenes Land hinweggespült haben, man in vielen Individuen
Merkmale findet, die (so sagt ein Fachgelehrter) unmittelbar und un-
zweifelhaft auf jene schon aus der Vermengung von Lang- und Kurz-
köpfen hervorgegangene prähistorische Rasse aus der Bronzezeit zurück-

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[492/0515] Die Erben. in Folge dessen auch eine Menge Ideen, eine Menge Arten zu denken und zu handeln, die halb-, viertel-, sechzehntel-germanisch oder auch direkt antigermanisch sind. Einzig die Übung in der Unterscheidung des Reingermanischen und des absolut Ungermanischen kann lehren, sich in diesem angehenden Chaos zurecht zu finden. Überall ist das Chaos der gefährlichste Feind. Ihm gegenüber muss der Gedanke zu einer That werden; hierzu ist die Klarheit der Vorstellungen der erste unerlässliche Schritt; und auf dem Gebiet, welches wir augen- blicklich durchwandern, besteht die Klarheit zunächst in der Er- kenntnis, dass unser Germanentum heute eine grosse Menge un- germanischer Elemente enthält, und in dem Versuch, das Reine von dem mit fremden (in keinem Sinne germanischen) Bestandteilen Gemischten zu scheiden. Doch, wie sehr zu diesem Behufe die Betonung des Anatomischen auch berechtigt sein mag, ich fürchte, allein wird dieses Anatomische nicht ausreichen; im Gegenteil, gerade hier wird augenblicklich die Wissenschaft auf einem Meer von Konfusionen und Irrtümern hin- und hergeworfen; wer sich von ihren Wahngebilden ergreifen lässt, muss sich dann zuletzt hineinstürzen. Denn das, was ich eben dar- legte von den verschiedenen Rassen, die aus vorarischen Zeiten in Europa übrig blieben, den Iberern, Rhätiern u. s. w., wenn auch entschieden richtig in den wesentlichsten Zügen, stellt nur die denkbar schlichteste Vereinfachung der Hypothesen dar, welche heute hundertfältig durch die Luft schwirren; und täglich wird die Sache komplizierter. So haben — um dem Laien nur ein einziges Beispiel zu geben — lange, sorgfältige Untersuchungen zu der Annahme ge- führt, dass es in Schottland in der ältesten Steinzeit eine langköpfige Menschenrasse gab, dass aber später, in der jüngeren Steinzeit, eine andere, ausserordentlich breitköpfige auftrat, welche dann, vermengt mit jener ersten und mit Mischformen, für die Bronzezeit bezeichnend wird; das alles spielte sich in unvordenklichen Zeiten ab, lange vor der Ankunft der Kelten; nun trafen die Kelten, als Vorhut der Germanen ein, und es ist wohl kaum zu zweifeln, dass sie durch den Kontakt mit dieser früher ansässigen Rasse Modifikationen er- litten, da noch heute, nachdem so viele und so starke Menschenwellen über jenes Land hinweggespült haben, man in vielen Individuen Merkmale findet, die (so sagt ein Fachgelehrter) unmittelbar und un- zweifelhaft auf jene schon aus der Vermengung von Lang- und Kurz- köpfen hervorgegangene prähistorische Rasse aus der Bronzezeit zurück-

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/515>, abgerufen am 24.11.2024.