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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
sie noch heute fortfährt.1) Scotus Erigena (im 9. Jahrhundert) ist ein
Reformator, da er sich weigert, sich den Befehlen Roms zu fügen und
lieber durch den Dolch der Mörder stirbt, als dass er ein Jota seiner
"Geistes- und Gewissensfreiheit" aufgäbe; Abälard ist im 11. Jahr-
hundert ein Reformator, da er bei aller Rechtgläubigkeit sich die
Freiheit seiner religiösen Vorstellungen nicht rauben lässt und ausser-
dem die Verwaltung der römischen Kirche, den Sündenablass u. s. w.
angreift; ebenso sind aber solche Leuchten der katholischen Kirche
wie Döllinger und Reusch in unserem Jahrhundert Reformatoren;
keine einzige dogmatische Frage schied sie von Rom, ausser der einen:
Freiheit. In dieser folgenschweren Bewegung thaten sich nun, neben
den Germanen im engeren Sinne des Wortes, nicht allein die Kelten
hervor, sondern ebenfalls die Slaven. Was ich im letzten Absatz meldete:
wie sie die fremde Einmengung in ihre Kirchenverwaltung abwiesen und
wie sie ihre Muttersprache als ihr heiligstes Erbgut hochhielten, gehört ja
schon hierher, beides ist die Verleugnung der notwendigen Prinzipien
Roms. Doch diese Bestrebungen hatten tiefere Wurzeln; im innersten
Herzen handelte es sich um Religion, nicht lediglich um Nation. Und
sobald die Reformation festen Fuss gefasst hatte -- was zuerst im fernen
England geschah -- da strömten die slavischen Katholiken nach Oxford
hin, angezogen durch eine offenbare Blutsverwandtschaft der heiligsten
Gefühle. Ganz gewiss wäre die Reformation ohne den einen einzigen
Martin Luther nicht das geworden, was sie geworden ist -- unsere
modernsten Historiker mögen sagen, was sie wollen, die Natur kennt
keine grössere Kraft als die eines gewaltig grossen Mannes -- doch
der Boden, auf dem dieser deutsche Mann zu voller Kraft aufwachsen
konnte, die Umgebung, in der er die belebende Luft zu seinem
Kampfe fand, sie waren in allererster Reihe das Werk Böhmens und
Englands.2) Schon hundert Jahre vor Luther's Geburt war in England
jeder dritte Mann ein Antipapist3) und war Wyclif's Übersetzung der
Bibel im ganzen Lande verbreitet. Böhmen blieb nicht zurück; bereits
im 13. Jahrhundert wurde das Neue Testament in tschechischer Sprache
gelesen und zu Beginn des 15. Jahrhunderts revidierte Hus die voll-

1) Der katholische Anthropolog Lapouge sagt in seiner rein naturwissen-
schaftlichen Definition des Homo europaeus: "en religion il est protestant". Siehe:
Depopulation de la France, p. 79.
2) Luther schreibt denn auch an Spalatin (Februar 1520): "Vide monstra,
quaeso, in quae venimus sine duce et doctore Bohemico
".
3) Fremantle: John Wyclif in dem Band Prophets of the Christian Faith, p. 106.

Die Erben.
sie noch heute fortfährt.1) Scotus Erigena (im 9. Jahrhundert) ist ein
Reformator, da er sich weigert, sich den Befehlen Roms zu fügen und
lieber durch den Dolch der Mörder stirbt, als dass er ein Jota seiner
»Geistes- und Gewissensfreiheit« aufgäbe; Abälard ist im 11. Jahr-
hundert ein Reformator, da er bei aller Rechtgläubigkeit sich die
Freiheit seiner religiösen Vorstellungen nicht rauben lässt und ausser-
dem die Verwaltung der römischen Kirche, den Sündenablass u. s. w.
angreift; ebenso sind aber solche Leuchten der katholischen Kirche
wie Döllinger und Reusch in unserem Jahrhundert Reformatoren;
keine einzige dogmatische Frage schied sie von Rom, ausser der einen:
Freiheit. In dieser folgenschweren Bewegung thaten sich nun, neben
den Germanen im engeren Sinne des Wortes, nicht allein die Kelten
hervor, sondern ebenfalls die Slaven. Was ich im letzten Absatz meldete:
wie sie die fremde Einmengung in ihre Kirchenverwaltung abwiesen und
wie sie ihre Muttersprache als ihr heiligstes Erbgut hochhielten, gehört ja
schon hierher, beides ist die Verleugnung der notwendigen Prinzipien
Roms. Doch diese Bestrebungen hatten tiefere Wurzeln; im innersten
Herzen handelte es sich um Religion, nicht lediglich um Nation. Und
sobald die Reformation festen Fuss gefasst hatte — was zuerst im fernen
England geschah — da strömten die slavischen Katholiken nach Oxford
hin, angezogen durch eine offenbare Blutsverwandtschaft der heiligsten
Gefühle. Ganz gewiss wäre die Reformation ohne den einen einzigen
Martin Luther nicht das geworden, was sie geworden ist — unsere
modernsten Historiker mögen sagen, was sie wollen, die Natur kennt
keine grössere Kraft als die eines gewaltig grossen Mannes — doch
der Boden, auf dem dieser deutsche Mann zu voller Kraft aufwachsen
konnte, die Umgebung, in der er die belebende Luft zu seinem
Kampfe fand, sie waren in allererster Reihe das Werk Böhmens und
Englands.2) Schon hundert Jahre vor Luther’s Geburt war in England
jeder dritte Mann ein Antipapist3) und war Wyclif’s Übersetzung der
Bibel im ganzen Lande verbreitet. Böhmen blieb nicht zurück; bereits
im 13. Jahrhundert wurde das Neue Testament in tschechischer Sprache
gelesen und zu Beginn des 15. Jahrhunderts revidierte Hus die voll-

1) Der katholische Anthropolog Lapouge sagt in seiner rein naturwissen-
schaftlichen Definition des Homo europaeus: »en religion il est protestant«. Siehe:
Dépopulation de la France, p. 79.
2) Luther schreibt denn auch an Spalatin (Februar 1520): »Vide monstra,
quaeso, in quae venimus sine duce et doctore Bohemico
«.
3) Fremantle: John Wyclif in dem Band Prophets of the Christian Faith, p. 106.
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[478/0501] Die Erben. sie noch heute fortfährt. 1) Scotus Erigena (im 9. Jahrhundert) ist ein Reformator, da er sich weigert, sich den Befehlen Roms zu fügen und lieber durch den Dolch der Mörder stirbt, als dass er ein Jota seiner »Geistes- und Gewissensfreiheit« aufgäbe; Abälard ist im 11. Jahr- hundert ein Reformator, da er bei aller Rechtgläubigkeit sich die Freiheit seiner religiösen Vorstellungen nicht rauben lässt und ausser- dem die Verwaltung der römischen Kirche, den Sündenablass u. s. w. angreift; ebenso sind aber solche Leuchten der katholischen Kirche wie Döllinger und Reusch in unserem Jahrhundert Reformatoren; keine einzige dogmatische Frage schied sie von Rom, ausser der einen: Freiheit. In dieser folgenschweren Bewegung thaten sich nun, neben den Germanen im engeren Sinne des Wortes, nicht allein die Kelten hervor, sondern ebenfalls die Slaven. Was ich im letzten Absatz meldete: wie sie die fremde Einmengung in ihre Kirchenverwaltung abwiesen und wie sie ihre Muttersprache als ihr heiligstes Erbgut hochhielten, gehört ja schon hierher, beides ist die Verleugnung der notwendigen Prinzipien Roms. Doch diese Bestrebungen hatten tiefere Wurzeln; im innersten Herzen handelte es sich um Religion, nicht lediglich um Nation. Und sobald die Reformation festen Fuss gefasst hatte — was zuerst im fernen England geschah — da strömten die slavischen Katholiken nach Oxford hin, angezogen durch eine offenbare Blutsverwandtschaft der heiligsten Gefühle. Ganz gewiss wäre die Reformation ohne den einen einzigen Martin Luther nicht das geworden, was sie geworden ist — unsere modernsten Historiker mögen sagen, was sie wollen, die Natur kennt keine grössere Kraft als die eines gewaltig grossen Mannes — doch der Boden, auf dem dieser deutsche Mann zu voller Kraft aufwachsen konnte, die Umgebung, in der er die belebende Luft zu seinem Kampfe fand, sie waren in allererster Reihe das Werk Böhmens und Englands. 2) Schon hundert Jahre vor Luther’s Geburt war in England jeder dritte Mann ein Antipapist 3) und war Wyclif’s Übersetzung der Bibel im ganzen Lande verbreitet. Böhmen blieb nicht zurück; bereits im 13. Jahrhundert wurde das Neue Testament in tschechischer Sprache gelesen und zu Beginn des 15. Jahrhunderts revidierte Hus die voll- 1) Der katholische Anthropolog Lapouge sagt in seiner rein naturwissen- schaftlichen Definition des Homo europaeus: »en religion il est protestant«. Siehe: Dépopulation de la France, p. 79. 2) Luther schreibt denn auch an Spalatin (Februar 1520): »Vide monstra, quaeso, in quae venimus sine duce et doctore Bohemico«. 3) Fremantle: John Wyclif in dem Band Prophets of the Christian Faith, p. 106.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/501>, abgerufen am 22.11.2024.