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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
die Anerkennung ihrer kirchlichen Unabhängigkeit: Rom verweigert dies,
Byzanz giebt es zu; und so entsteht in der ersten Hälfte des 10. Jahr-
hunderts die erste ihrer Verfassung nach unabhängige christliche
Kirche.1) Die ungeheuere Wichtigkeit eines derartigen Vorganges
dürfte Jedem sofort ersichtlich sein. Michael von Bulgarien war es
durchaus nicht um Glaubensdifferenzen zu thun; er war Christ und
bereit, Alles zu glauben, was die Priester als christliche Wahrheit ver-
kündeten; für ihn handelte es sich lediglich um eine Verfassungsfrage:
seine bulgarische Kirche wollte er von einem eigenen bulgarischen
Patriarchen in vollkommener Unabhängigkeit verwaltet wissen, kein
Kirchenoberhaupt in Rom oder Byzanz sollte sich darein mischen.
Was Manchen eine bloss administrative Frage dünken möchte, ist in
Wahrheit die Erhebung des germanischen Geistes der freien Indivi-
dualität gegen die letzte Verkörperung des aus dem Völkerchaos ge-
borenen und die politischen Interessen des antinationalen, antiindivi-
duellen, nivellierenden Prinzips vertretenden Imperiums. Dies ist nicht
der Augenblick, um näher auf diesen Gegenstand einzugehen, das kann
erst in den zwei folgenden Kapiteln geschehen; doch wenn man dem
selben Vorgang aller Orten unter den Slaven begegnet, so wird man
seine symptomatische Bedeutung für die Beurteilung ihres ursprüng-
lichen Charakters nicht leugnen können. Kaum waren z. B. die
Serben zu einem Reich konstituiert, so schufen sie sich eine autonome
Kirche und der grosse Zar Stephan Duschan verteidigte seinen Patri-
archen gegen die oberherrlichen Prätentionen der byzantinischen Kirche
und erzwang seine rechtliche Anerkennung. Auch hier keine Glaubens-
sache; denn damals (Mitte des 14. Jahrhunderts) war das Schisma
zwischen Rom und Konstantinopel eine längst vollendete Thatsache
und die Serben waren schon, wie noch heute, fanatische Griechisch-
Orthodoxe; doch wie die Bulgaren die Einmengung Roms, so wiesen
die Serben die Einmengung Konstantinopels zurück. Das Prinzip ist
dasselbe: die Wahrung der Nationalität. Die russische Kirche hat
sich allerdings viel langsamer, sogar erst lange nach der Zerstörung
des byzantinischen Reiches freigemacht, doch kann gerade Russland
nur in einem sehr bedingten, ungermanischen Sinne ein slavisches
Land geheissen werden, und heute besitzt es ja doch, neben England,
allein von allen grösseren Nationen Europas eine durchaus nationale,
autokephale Kirche. Besonders auffallend ist ferner in dieser Beziehung

1) Vergl. Hergenröther: Photius II, 614.

Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
die Anerkennung ihrer kirchlichen Unabhängigkeit: Rom verweigert dies,
Byzanz giebt es zu; und so entsteht in der ersten Hälfte des 10. Jahr-
hunderts die erste ihrer Verfassung nach unabhängige christliche
Kirche.1) Die ungeheuere Wichtigkeit eines derartigen Vorganges
dürfte Jedem sofort ersichtlich sein. Michael von Bulgarien war es
durchaus nicht um Glaubensdifferenzen zu thun; er war Christ und
bereit, Alles zu glauben, was die Priester als christliche Wahrheit ver-
kündeten; für ihn handelte es sich lediglich um eine Verfassungsfrage:
seine bulgarische Kirche wollte er von einem eigenen bulgarischen
Patriarchen in vollkommener Unabhängigkeit verwaltet wissen, kein
Kirchenoberhaupt in Rom oder Byzanz sollte sich darein mischen.
Was Manchen eine bloss administrative Frage dünken möchte, ist in
Wahrheit die Erhebung des germanischen Geistes der freien Indivi-
dualität gegen die letzte Verkörperung des aus dem Völkerchaos ge-
borenen und die politischen Interessen des antinationalen, antiindivi-
duellen, nivellierenden Prinzips vertretenden Imperiums. Dies ist nicht
der Augenblick, um näher auf diesen Gegenstand einzugehen, das kann
erst in den zwei folgenden Kapiteln geschehen; doch wenn man dem
selben Vorgang aller Orten unter den Slaven begegnet, so wird man
seine symptomatische Bedeutung für die Beurteilung ihres ursprüng-
lichen Charakters nicht leugnen können. Kaum waren z. B. die
Serben zu einem Reich konstituiert, so schufen sie sich eine autonome
Kirche und der grosse Zar Stephan Duschan verteidigte seinen Patri-
archen gegen die oberherrlichen Prätentionen der byzantinischen Kirche
und erzwang seine rechtliche Anerkennung. Auch hier keine Glaubens-
sache; denn damals (Mitte des 14. Jahrhunderts) war das Schisma
zwischen Rom und Konstantinopel eine längst vollendete Thatsache
und die Serben waren schon, wie noch heute, fanatische Griechisch-
Orthodoxe; doch wie die Bulgaren die Einmengung Roms, so wiesen
die Serben die Einmengung Konstantinopels zurück. Das Prinzip ist
dasselbe: die Wahrung der Nationalität. Die russische Kirche hat
sich allerdings viel langsamer, sogar erst lange nach der Zerstörung
des byzantinischen Reiches freigemacht, doch kann gerade Russland
nur in einem sehr bedingten, ungermanischen Sinne ein slavisches
Land geheissen werden, und heute besitzt es ja doch, neben England,
allein von allen grösseren Nationen Europas eine durchaus nationale,
autokephale Kirche. Besonders auffallend ist ferner in dieser Beziehung

1) Vergl. Hergenröther: Photius II, 614.
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[475/0498] Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte. die Anerkennung ihrer kirchlichen Unabhängigkeit: Rom verweigert dies, Byzanz giebt es zu; und so entsteht in der ersten Hälfte des 10. Jahr- hunderts die erste ihrer Verfassung nach unabhängige christliche Kirche. 1) Die ungeheuere Wichtigkeit eines derartigen Vorganges dürfte Jedem sofort ersichtlich sein. Michael von Bulgarien war es durchaus nicht um Glaubensdifferenzen zu thun; er war Christ und bereit, Alles zu glauben, was die Priester als christliche Wahrheit ver- kündeten; für ihn handelte es sich lediglich um eine Verfassungsfrage: seine bulgarische Kirche wollte er von einem eigenen bulgarischen Patriarchen in vollkommener Unabhängigkeit verwaltet wissen, kein Kirchenoberhaupt in Rom oder Byzanz sollte sich darein mischen. Was Manchen eine bloss administrative Frage dünken möchte, ist in Wahrheit die Erhebung des germanischen Geistes der freien Indivi- dualität gegen die letzte Verkörperung des aus dem Völkerchaos ge- borenen und die politischen Interessen des antinationalen, antiindivi- duellen, nivellierenden Prinzips vertretenden Imperiums. Dies ist nicht der Augenblick, um näher auf diesen Gegenstand einzugehen, das kann erst in den zwei folgenden Kapiteln geschehen; doch wenn man dem selben Vorgang aller Orten unter den Slaven begegnet, so wird man seine symptomatische Bedeutung für die Beurteilung ihres ursprüng- lichen Charakters nicht leugnen können. Kaum waren z. B. die Serben zu einem Reich konstituiert, so schufen sie sich eine autonome Kirche und der grosse Zar Stephan Duschan verteidigte seinen Patri- archen gegen die oberherrlichen Prätentionen der byzantinischen Kirche und erzwang seine rechtliche Anerkennung. Auch hier keine Glaubens- sache; denn damals (Mitte des 14. Jahrhunderts) war das Schisma zwischen Rom und Konstantinopel eine längst vollendete Thatsache und die Serben waren schon, wie noch heute, fanatische Griechisch- Orthodoxe; doch wie die Bulgaren die Einmengung Roms, so wiesen die Serben die Einmengung Konstantinopels zurück. Das Prinzip ist dasselbe: die Wahrung der Nationalität. Die russische Kirche hat sich allerdings viel langsamer, sogar erst lange nach der Zerstörung des byzantinischen Reiches freigemacht, doch kann gerade Russland nur in einem sehr bedingten, ungermanischen Sinne ein slavisches Land geheissen werden, und heute besitzt es ja doch, neben England, allein von allen grösseren Nationen Europas eine durchaus nationale, autokephale Kirche. Besonders auffallend ist ferner in dieser Beziehung 1) Vergl. Hergenröther: Photius II, 614.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/498>, abgerufen am 25.11.2024.