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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
heutigen Tag den Beweis liefert -- überall dort liefert, wo der Kelte
noch reines keltisches Blut bewahrt. So sehen wir z. B. aus den
unverfälscht keltischen Teilen Irlands in früher Zeit (während des
halben Jahrtausends, das von dem Kelten Scotus Erigena bis zu dem
Kelten Duns Scotus führt) philosophisch hochbeanlagte Theologen her-
vorgehen, deren unabhängige Geistesrichtung und kühner Forschungs-
drang ihnen Verfolgung seitens der römischen Kirche zuzieht; im
Herzen der Bretagne wird jener bahnbrechende Geist Petrus Abaielardus
geboren und -- das merke man wohl -- was ihn gleichwie jene
auszeichnet, ist durchaus nicht allein das selbständige, nach Freiheit
dürstende Denken, sondern vor allem der heilige Ernst seines Lebens, eine
durchaus "germanische" Eigenschaft. Diese kraftstrotzenden keltischen
Geister aus früheren Jahrhunderten sind nicht bloss frei, auch nicht
bloss fromm, ebensowenig wie der heutige bretonische Seefahrer, sondern
sie sind zugleich fromm und frei, und gerade hierdurch wird das
spezifisch "Germanische" ausgesprochen, wie wir es von Karl dem
Grossen und König Alfred bis zu Cromwell und Königin Luise, von
den kühnen antirömischen Troubadours und den politisch so un-
abhängigen Minnesängern bis zu Schiller und Richard Wagner be-
obachten. Und sehen wir z. B. den soeben genannten Abälard aus
tiefer religiöser Überzeugung gegen den Sündenablass um Geld an-
kämpfen (Theologia christiana), zu gleicher Zeit die Hellenen in
jeder Beziehung weit über die Juden stellen, die Moral ihrer Philosophen
als der jüdischen Gesetzesheiligkeit überlegen, Plato's Weltanschauung
als erhabener denn die des Moses betrachten, ja, sehen wir ihn sogar
(Dialogus inter philosophum, Judaeum et Christianum) die Aner-
kennung der transcendentalen Idealität der räumlichen Vorstellung
dem religiösen Denken zu Grunde legen, so dass nicht durch den
Eintritt in einen empirischen Himmel, sondern einzig durch eine
innere Umkehr des Gemütes der Mensch unmittelbar vor Gottes An-
gesicht stehe: müssen wir da nicht erkennen, diese Intelligenz sei
nicht allein eine charakteristisch indoeuropäische im Gegensatz zu einer
semitischen und zu einer spätrömischen, sondern hier bekunde sich
eine Individualität, die in jedem einzelnen jener plis de la pensee
(von denen ich im vorigen Kapitel sprach) die spezifisch germanische
Eigenart verrät? Ich sagte nicht "deutsche" Eigenart, sondern ger-
manische, ich rede auch nicht von heute, wo die Differentiation zu der
Ausbildung äusserlich sehr scharf unterschiedener nationaler Charaktere
geführt hat, sondern von einem Manne, der vor bald tausend Jahren

Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
heutigen Tag den Beweis liefert — überall dort liefert, wo der Kelte
noch reines keltisches Blut bewahrt. So sehen wir z. B. aus den
unverfälscht keltischen Teilen Irlands in früher Zeit (während des
halben Jahrtausends, das von dem Kelten Scotus Erigena bis zu dem
Kelten Duns Scotus führt) philosophisch hochbeanlagte Theologen her-
vorgehen, deren unabhängige Geistesrichtung und kühner Forschungs-
drang ihnen Verfolgung seitens der römischen Kirche zuzieht; im
Herzen der Bretagne wird jener bahnbrechende Geist Petrus Abaielardus
geboren und — das merke man wohl — was ihn gleichwie jene
auszeichnet, ist durchaus nicht allein das selbständige, nach Freiheit
dürstende Denken, sondern vor allem der heilige Ernst seines Lebens, eine
durchaus »germanische« Eigenschaft. Diese kraftstrotzenden keltischen
Geister aus früheren Jahrhunderten sind nicht bloss frei, auch nicht
bloss fromm, ebensowenig wie der heutige bretonische Seefahrer, sondern
sie sind zugleich fromm und frei, und gerade hierdurch wird das
spezifisch »Germanische« ausgesprochen, wie wir es von Karl dem
Grossen und König Alfred bis zu Cromwell und Königin Luise, von
den kühnen antirömischen Troubadours und den politisch so un-
abhängigen Minnesängern bis zu Schiller und Richard Wagner be-
obachten. Und sehen wir z. B. den soeben genannten Abälard aus
tiefer religiöser Überzeugung gegen den Sündenablass um Geld an-
kämpfen (Theologia christiana), zu gleicher Zeit die Hellenen in
jeder Beziehung weit über die Juden stellen, die Moral ihrer Philosophen
als der jüdischen Gesetzesheiligkeit überlegen, Plato’s Weltanschauung
als erhabener denn die des Moses betrachten, ja, sehen wir ihn sogar
(Dialogus inter philosophum, Judaeum et Christianum) die Aner-
kennung der transcendentalen Idealität der räumlichen Vorstellung
dem religiösen Denken zu Grunde legen, so dass nicht durch den
Eintritt in einen empirischen Himmel, sondern einzig durch eine
innere Umkehr des Gemütes der Mensch unmittelbar vor Gottes An-
gesicht stehe: müssen wir da nicht erkennen, diese Intelligenz sei
nicht allein eine charakteristisch indoeuropäische im Gegensatz zu einer
semitischen und zu einer spätrömischen, sondern hier bekunde sich
eine Individualität, die in jedem einzelnen jener plis de la pensée
(von denen ich im vorigen Kapitel sprach) die spezifisch germanische
Eigenart verrät? Ich sagte nicht »deutsche« Eigenart, sondern ger-
manische, ich rede auch nicht von heute, wo die Differentiation zu der
Ausbildung äusserlich sehr scharf unterschiedener nationaler Charaktere
geführt hat, sondern von einem Manne, der vor bald tausend Jahren

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[469/0492] Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte. heutigen Tag den Beweis liefert — überall dort liefert, wo der Kelte noch reines keltisches Blut bewahrt. So sehen wir z. B. aus den unverfälscht keltischen Teilen Irlands in früher Zeit (während des halben Jahrtausends, das von dem Kelten Scotus Erigena bis zu dem Kelten Duns Scotus führt) philosophisch hochbeanlagte Theologen her- vorgehen, deren unabhängige Geistesrichtung und kühner Forschungs- drang ihnen Verfolgung seitens der römischen Kirche zuzieht; im Herzen der Bretagne wird jener bahnbrechende Geist Petrus Abaielardus geboren und — das merke man wohl — was ihn gleichwie jene auszeichnet, ist durchaus nicht allein das selbständige, nach Freiheit dürstende Denken, sondern vor allem der heilige Ernst seines Lebens, eine durchaus »germanische« Eigenschaft. Diese kraftstrotzenden keltischen Geister aus früheren Jahrhunderten sind nicht bloss frei, auch nicht bloss fromm, ebensowenig wie der heutige bretonische Seefahrer, sondern sie sind zugleich fromm und frei, und gerade hierdurch wird das spezifisch »Germanische« ausgesprochen, wie wir es von Karl dem Grossen und König Alfred bis zu Cromwell und Königin Luise, von den kühnen antirömischen Troubadours und den politisch so un- abhängigen Minnesängern bis zu Schiller und Richard Wagner be- obachten. Und sehen wir z. B. den soeben genannten Abälard aus tiefer religiöser Überzeugung gegen den Sündenablass um Geld an- kämpfen (Theologia christiana), zu gleicher Zeit die Hellenen in jeder Beziehung weit über die Juden stellen, die Moral ihrer Philosophen als der jüdischen Gesetzesheiligkeit überlegen, Plato’s Weltanschauung als erhabener denn die des Moses betrachten, ja, sehen wir ihn sogar (Dialogus inter philosophum, Judaeum et Christianum) die Aner- kennung der transcendentalen Idealität der räumlichen Vorstellung dem religiösen Denken zu Grunde legen, so dass nicht durch den Eintritt in einen empirischen Himmel, sondern einzig durch eine innere Umkehr des Gemütes der Mensch unmittelbar vor Gottes An- gesicht stehe: müssen wir da nicht erkennen, diese Intelligenz sei nicht allein eine charakteristisch indoeuropäische im Gegensatz zu einer semitischen und zu einer spätrömischen, sondern hier bekunde sich eine Individualität, die in jedem einzelnen jener plis de la pensée (von denen ich im vorigen Kapitel sprach) die spezifisch germanische Eigenart verrät? Ich sagte nicht »deutsche« Eigenart, sondern ger- manische, ich rede auch nicht von heute, wo die Differentiation zu der Ausbildung äusserlich sehr scharf unterschiedener nationaler Charaktere geführt hat, sondern von einem Manne, der vor bald tausend Jahren

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 469. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/492>, abgerufen am 13.09.2024.