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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
alten Normannen es gleichthun? Wie aber dieses wilde kelto-
germanische Gemüt vielerorten nach und nach durch die Berührung
mit römischer Civilisation verweiblicht (effeminatum) wurde, hat kein
Geringerer als Julius Caesar im. ersten Absatz des ersten Buches seines
Gallischen Krieges gemeldet.1)

Noch auffallender und für meine These noch entscheidender
ist die Verwandtschaft der tieferen geistigen Anlagen zwischen Kelten
und Germanen, welche uns aus der Geschichte entgegenleuchtet, die
Verwandtschaft jener feinen Züge, welche Individualität ausmachen.
Glaubt man denn -- um gleich sehr tief zu greifen -- es sei Zufall, dass
Paulus seine Epistel von der Erlösung durch den Glauben, von dem
Evangelium der Freiheit (im Gegensatz zum "knechtischen Joch"
des kirchlichen Gesetzes), von der Bedeutung der Religion als nicht
in Werken liegend, sondern in der Wiedergeburt "zu einer neuen
Kreatur", glaubt man, es sei Zufall, dass gerade diese Schrift an die
Galater, an jene fast rein keltisch gebliebenen "gallischen Griechen"
Kleinasiens gerichtet ist, diese Schrift, in welcher man einen Martin
Luther zu leicht zu bethörenden, doch für das Verständnis tiefster
Mysterien unvergleichlich begabten Deutschen reden zu hören meint?2)
Ich für mein Teil glaube nicht, dass bei derlei Dingen für Zufall
Raum sei; ich glaube es hier um so weniger, weil ich sehe, welch'
andere Sprache derselbe Mann führt, welch' endlose Umwege er
wandelt, sobald er das gleiche Thema einer Gemeinde von Juden und
von Kindern des Völkerchaos nahelegen will, wie in der Epistel an
die Römer.
Doch ruht unser Urteil nicht allein auf so hypothetischer
Grundlage, auch nicht allein auf der Verwandtschaft zwischen alt-
keltischer und altgermanischer mythischer Religion, sondern auf der
Beobachtung der Verwandtschaft zwischen den geistigen Anlagen über-
haupt, für welche die gesamte Kulturgeschichte Europas bis zum

1) Über die physische Identität zwischen Kelten und Germanen hat vor
kurzem Professor Gabriel de Mortillet so umfassendes Material zusammengetragen,
und zwar sowohl anthropologisches als auch die Zeugnisse der altrömischen Schrift-
steller, dass ich mich begnügen kann, auf seine Formation de la nation francaise, 1897
(S. 114 fg.) zu verweisen. Sein Schluss lautet: "La caracteristique des deux groupes
est donc exactement la meme et s'applique aussi bien au groupe qui a recu le nom de
Gaulois
(mit Kelten synonym, siehe S. 92) qu'au groupe qui depuis les invasions des
Cimbres a pris le nom de Germains
".
2) Dass Galatien "eine keltische Insel inmitten der Fluten der Ostvölker"
war, in welcher sogar die keltische Sprache sich jahrhundertelang als Umgangs-
sprache behauptete, bezeugt Mommsen: Römische Geschichte, 3. Auflage, V, 311 fg.

Die Erben.
alten Normannen es gleichthun? Wie aber dieses wilde kelto-
germanische Gemüt vielerorten nach und nach durch die Berührung
mit römischer Civilisation verweiblicht (effeminatum) wurde, hat kein
Geringerer als Julius Caesar im. ersten Absatz des ersten Buches seines
Gallischen Krieges gemeldet.1)

Noch auffallender und für meine These noch entscheidender
ist die Verwandtschaft der tieferen geistigen Anlagen zwischen Kelten
und Germanen, welche uns aus der Geschichte entgegenleuchtet, die
Verwandtschaft jener feinen Züge, welche Individualität ausmachen.
Glaubt man denn — um gleich sehr tief zu greifen — es sei Zufall, dass
Paulus seine Epistel von der Erlösung durch den Glauben, von dem
Evangelium der Freiheit (im Gegensatz zum »knechtischen Joch«
des kirchlichen Gesetzes), von der Bedeutung der Religion als nicht
in Werken liegend, sondern in der Wiedergeburt »zu einer neuen
Kreatur«, glaubt man, es sei Zufall, dass gerade diese Schrift an die
Galater, an jene fast rein keltisch gebliebenen »gallischen Griechen«
Kleinasiens gerichtet ist, diese Schrift, in welcher man einen Martin
Luther zu leicht zu bethörenden, doch für das Verständnis tiefster
Mysterien unvergleichlich begabten Deutschen reden zu hören meint?2)
Ich für mein Teil glaube nicht, dass bei derlei Dingen für Zufall
Raum sei; ich glaube es hier um so weniger, weil ich sehe, welch’
andere Sprache derselbe Mann führt, welch’ endlose Umwege er
wandelt, sobald er das gleiche Thema einer Gemeinde von Juden und
von Kindern des Völkerchaos nahelegen will, wie in der Epistel an
die Römer.
Doch ruht unser Urteil nicht allein auf so hypothetischer
Grundlage, auch nicht allein auf der Verwandtschaft zwischen alt-
keltischer und altgermanischer mythischer Religion, sondern auf der
Beobachtung der Verwandtschaft zwischen den geistigen Anlagen über-
haupt, für welche die gesamte Kulturgeschichte Europas bis zum

1) Über die physische Identität zwischen Kelten und Germanen hat vor
kurzem Professor Gabriel de Mortillet so umfassendes Material zusammengetragen,
und zwar sowohl anthropologisches als auch die Zeugnisse der altrömischen Schrift-
steller, dass ich mich begnügen kann, auf seine Formation de la nation française, 1897
(S. 114 fg.) zu verweisen. Sein Schluss lautet: »La caractéristique des deux groupes
est donc exactement la même et s’applique aussi bien au groupe qui a reçu le nom de
Gaulois
(mit Kelten synonym, siehe S. 92) qu’au groupe qui depuis les invasions des
Cimbres a pris le nom de Germains
«.
2) Dass Galatien »eine keltische Insel inmitten der Fluten der Ostvölker«
war, in welcher sogar die keltische Sprache sich jahrhundertelang als Umgangs-
sprache behauptete, bezeugt Mommsen: Römische Geschichte, 3. Auflage, V, 311 fg.
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[468/0491] Die Erben. alten Normannen es gleichthun? Wie aber dieses wilde kelto- germanische Gemüt vielerorten nach und nach durch die Berührung mit römischer Civilisation verweiblicht (effeminatum) wurde, hat kein Geringerer als Julius Caesar im. ersten Absatz des ersten Buches seines Gallischen Krieges gemeldet. 1) Noch auffallender und für meine These noch entscheidender ist die Verwandtschaft der tieferen geistigen Anlagen zwischen Kelten und Germanen, welche uns aus der Geschichte entgegenleuchtet, die Verwandtschaft jener feinen Züge, welche Individualität ausmachen. Glaubt man denn — um gleich sehr tief zu greifen — es sei Zufall, dass Paulus seine Epistel von der Erlösung durch den Glauben, von dem Evangelium der Freiheit (im Gegensatz zum »knechtischen Joch« des kirchlichen Gesetzes), von der Bedeutung der Religion als nicht in Werken liegend, sondern in der Wiedergeburt »zu einer neuen Kreatur«, glaubt man, es sei Zufall, dass gerade diese Schrift an die Galater, an jene fast rein keltisch gebliebenen »gallischen Griechen« Kleinasiens gerichtet ist, diese Schrift, in welcher man einen Martin Luther zu leicht zu bethörenden, doch für das Verständnis tiefster Mysterien unvergleichlich begabten Deutschen reden zu hören meint? 2) Ich für mein Teil glaube nicht, dass bei derlei Dingen für Zufall Raum sei; ich glaube es hier um so weniger, weil ich sehe, welch’ andere Sprache derselbe Mann führt, welch’ endlose Umwege er wandelt, sobald er das gleiche Thema einer Gemeinde von Juden und von Kindern des Völkerchaos nahelegen will, wie in der Epistel an die Römer. Doch ruht unser Urteil nicht allein auf so hypothetischer Grundlage, auch nicht allein auf der Verwandtschaft zwischen alt- keltischer und altgermanischer mythischer Religion, sondern auf der Beobachtung der Verwandtschaft zwischen den geistigen Anlagen über- haupt, für welche die gesamte Kulturgeschichte Europas bis zum 1) Über die physische Identität zwischen Kelten und Germanen hat vor kurzem Professor Gabriel de Mortillet so umfassendes Material zusammengetragen, und zwar sowohl anthropologisches als auch die Zeugnisse der altrömischen Schrift- steller, dass ich mich begnügen kann, auf seine Formation de la nation française, 1897 (S. 114 fg.) zu verweisen. Sein Schluss lautet: »La caractéristique des deux groupes est donc exactement la même et s’applique aussi bien au groupe qui a reçu le nom de Gaulois (mit Kelten synonym, siehe S. 92) qu’au groupe qui depuis les invasions des Cimbres a pris le nom de Germains«. 2) Dass Galatien »eine keltische Insel inmitten der Fluten der Ostvölker« war, in welcher sogar die keltische Sprache sich jahrhundertelang als Umgangs- sprache behauptete, bezeugt Mommsen: Römische Geschichte, 3. Auflage, V, 311 fg.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/491>, abgerufen am 25.11.2024.