Menschen die selbe"; das war die richtige empirische Grundlage für die weitere intuitiv richtige Einsicht: "Ich bin überzeugt, dass die ver- schiedenen Stämme Germaniens, unbefleckt durch Ehen mit fremden Völkern, seit jeher ein besonderes, unvermischtes Volk bilden, welches nur sich selber gleicht" (Germania, 4). So viel deutlicher als der zunächst Beteiligte erkennt manchmal der Fernstehende, dessen Auge nicht durch Einzelheiten beeinflusst und befangen wird, den grossen Zusammenhang der Erscheinungen!
Heute jedoch ist es nicht allein Befangenheit, welche uns hindert das Wort "Germanen" räumlich und phylogenetisch so einfach wie Tacitus anzuwenden: jene "verschiedenen Germanenstämme", die er als unvermischtes, verhältnismässig einförmiges Volk erblickte, sind seitdem, wie früher die Hellenen, die mannigfachsten Vermischungen unter einander eingegangen und ausserdem blieb nur ein Bruchteil "unbefleckt durch Ehen mit fremden Völkern"; wozu dann, in Folge der grossen Wanderungen, die besonderen kulturellen Einflüsse kamen, die aus geographischer Lage, klimatischen Verhältnissen, Bildungsgrad der nächsten Nachbarn u. s. w. sich ergaben. Das allein hätte schon genügt, um die Einheit in eine Vielheit zu spalten. Doch noch weit verwickelter erscheint die Sachlage, wenn wir das, was die politische Geschichte lehrt, durch nähere vergleichende Untersuchungen auf den Gebieten der Volksseelenkunde, der Philosophie und der Kunstgeschichte, sowie auch andrerseits durch die Ergebnisse der prähistorischen und anthropologischen Forschungen der letzten fünfzig Jahre ergänzen. Denn dann gewinnen wir die Überzeugung, dass wir den Begriff der "Germanen" bedeutend weiter fassen dürfen und müssen als Tacitus, zugleich aber erblicken wir notwendige Beschränkungen, an die das unvollkommenere Wissen seiner Zeit nicht denken konnte. Um unsere Geschichte und unsere Gegenwart zu verstehen, müssen wir uns an Tacitus ein Beispiel nehmen und, wie er, zusammenfassen und ausscheiden, doch auf der breiteren Grundlage unseres heutigen Wissens. Nur durch die genaue Feststellung eines neuen Begriffes des "Ger- manischen" gewinnt die Betrachtung des Eintrittes der Germanen in die Weltgeschichte praktischen Wert. Zweck dieses Kapitels ist, eine solche beschreibende Definition in aller Kürze zu geben. Bis wohin reicht das Stammverwandte? wo treffen wir "Arya" (d. h. die zu den Freunden Gehörigen) an? wo beginnt das Fremde, welches wir nach Goethe's Wort "nicht leiden dürfen"?
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 30
Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
Menschen die selbe«; das war die richtige empirische Grundlage für die weitere intuitiv richtige Einsicht: »Ich bin überzeugt, dass die ver- schiedenen Stämme Germaniens, unbefleckt durch Ehen mit fremden Völkern, seit jeher ein besonderes, unvermischtes Volk bilden, welches nur sich selber gleicht« (Germania, 4). So viel deutlicher als der zunächst Beteiligte erkennt manchmal der Fernstehende, dessen Auge nicht durch Einzelheiten beeinflusst und befangen wird, den grossen Zusammenhang der Erscheinungen!
Heute jedoch ist es nicht allein Befangenheit, welche uns hindert das Wort »Germanen« räumlich und phylogenetisch so einfach wie Tacitus anzuwenden: jene »verschiedenen Germanenstämme«, die er als unvermischtes, verhältnismässig einförmiges Volk erblickte, sind seitdem, wie früher die Hellenen, die mannigfachsten Vermischungen unter einander eingegangen und ausserdem blieb nur ein Bruchteil »unbefleckt durch Ehen mit fremden Völkern«; wozu dann, in Folge der grossen Wanderungen, die besonderen kulturellen Einflüsse kamen, die aus geographischer Lage, klimatischen Verhältnissen, Bildungsgrad der nächsten Nachbarn u. s. w. sich ergaben. Das allein hätte schon genügt, um die Einheit in eine Vielheit zu spalten. Doch noch weit verwickelter erscheint die Sachlage, wenn wir das, was die politische Geschichte lehrt, durch nähere vergleichende Untersuchungen auf den Gebieten der Volksseelenkunde, der Philosophie und der Kunstgeschichte, sowie auch andrerseits durch die Ergebnisse der prähistorischen und anthropologischen Forschungen der letzten fünfzig Jahre ergänzen. Denn dann gewinnen wir die Überzeugung, dass wir den Begriff der »Germanen« bedeutend weiter fassen dürfen und müssen als Tacitus, zugleich aber erblicken wir notwendige Beschränkungen, an die das unvollkommenere Wissen seiner Zeit nicht denken konnte. Um unsere Geschichte und unsere Gegenwart zu verstehen, müssen wir uns an Tacitus ein Beispiel nehmen und, wie er, zusammenfassen und ausscheiden, doch auf der breiteren Grundlage unseres heutigen Wissens. Nur durch die genaue Feststellung eines neuen Begriffes des »Ger- manischen« gewinnt die Betrachtung des Eintrittes der Germanen in die Weltgeschichte praktischen Wert. Zweck dieses Kapitels ist, eine solche beschreibende Definition in aller Kürze zu geben. Bis wohin reicht das Stammverwandte? wo treffen wir »Arya« (d. h. die zu den Freunden Gehörigen) an? wo beginnt das Fremde, welches wir nach Goethe’s Wort »nicht leiden dürfen«?
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 30
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Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
Menschen die selbe«; das war die richtige empirische Grundlage für
die weitere intuitiv richtige Einsicht: »Ich bin überzeugt, dass die ver-
schiedenen Stämme Germaniens, unbefleckt durch Ehen mit fremden
Völkern, seit jeher ein besonderes, unvermischtes Volk bilden, welches
nur sich selber gleicht« (Germania, 4). So viel deutlicher als der
zunächst Beteiligte erkennt manchmal der Fernstehende, dessen Auge
nicht durch Einzelheiten beeinflusst und befangen wird, den grossen
Zusammenhang der Erscheinungen!
Heute jedoch ist es nicht allein Befangenheit, welche uns hindert
das Wort »Germanen« räumlich und phylogenetisch so einfach wie
Tacitus anzuwenden: jene »verschiedenen Germanenstämme«, die er
als unvermischtes, verhältnismässig einförmiges Volk erblickte, sind
seitdem, wie früher die Hellenen, die mannigfachsten Vermischungen
unter einander eingegangen und ausserdem blieb nur ein Bruchteil
»unbefleckt durch Ehen mit fremden Völkern«; wozu dann, in Folge
der grossen Wanderungen, die besonderen kulturellen Einflüsse kamen,
die aus geographischer Lage, klimatischen Verhältnissen, Bildungsgrad
der nächsten Nachbarn u. s. w. sich ergaben. Das allein hätte schon
genügt, um die Einheit in eine Vielheit zu spalten. Doch noch weit
verwickelter erscheint die Sachlage, wenn wir das, was die politische
Geschichte lehrt, durch nähere vergleichende Untersuchungen auf den
Gebieten der Volksseelenkunde, der Philosophie und der Kunstgeschichte,
sowie auch andrerseits durch die Ergebnisse der prähistorischen und
anthropologischen Forschungen der letzten fünfzig Jahre ergänzen.
Denn dann gewinnen wir die Überzeugung, dass wir den Begriff der
»Germanen« bedeutend weiter fassen dürfen und müssen als Tacitus,
zugleich aber erblicken wir notwendige Beschränkungen, an die
das unvollkommenere Wissen seiner Zeit nicht denken konnte. Um
unsere Geschichte und unsere Gegenwart zu verstehen, müssen wir
uns an Tacitus ein Beispiel nehmen und, wie er, zusammenfassen und
ausscheiden, doch auf der breiteren Grundlage unseres heutigen Wissens.
Nur durch die genaue Feststellung eines neuen Begriffes des »Ger-
manischen« gewinnt die Betrachtung des Eintrittes der Germanen in
die Weltgeschichte praktischen Wert. Zweck dieses Kapitels ist, eine
solche beschreibende Definition in aller Kürze zu geben. Bis wohin
reicht das Stammverwandte? wo treffen wir »Arya« (d. h. die zu den
Freunden Gehörigen) an? wo beginnt das Fremde, welches wir nach
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/488>, abgerufen am 22.11.2024.
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