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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
Gegenteil; wie sich Beides aus denselben Zahlen herausklügeln lässt,
wundert mich, aber noch viel mehr wundert es mich, dass man auf
diese Weise Völkerpsychologie zu treiben wähnt. Kein Mensch stiehlt
zum Vergnügen, er sei denn ein Kleptoman. Ist wirklich der Mann,
der durch Not oder in Folge üblen Beispiels ein Dieb wird, schlechter-
dings ein böser Mann, und derjenige, der nicht die mindeste Veran-
lassung dazu hat, ein guter? Luther sagt: "Wer dem Bäcker Brot
vom Laden nimmt ohne Hungersnot, ist ein Dieb; thut er's in Hungers-
not, so thut er recht, denn man ist's schuldig, ihm zu geben". Man
gebe mir eine Statistik, welche mir zeigt, wie viele Menschen, die in
äusserster Not, Bedrängnis und Verlassenheit leben, nicht Verbrecher
werden; hieraus könnte eventuell etwas geschlossen werden; und doch,
nur wenig, sehr wenig. Waren nicht die Vorfahren unseres Feudal-
adels Strassenräuber? und sind ihre Nachkommen nicht stolz darauf?
Liessen die Päpste nicht Könige durch gedungene Mörder erschlagen?
Gehört nicht in unserer heutigen gesitteten Gesellschaft Lügen und
Prävarizieren einzig noch in der hohen Diplomatie zum guten Ton?
Lassen wir also die Moralität bei Seite, ebenso wie die fast gleich
schlüpfrige Frage nach der Begabung: dass es mehr jüdische als
europäische Rechtsanwälte in einem Lande giebt, beweist doch zunächst
nichts weiter, als dass es dort ein gutes Geschäft ist, Rechtsanwalt zu
sein, eine besondere Begabung gehört nicht dazu -- -- --. Bei allen
diesen Dingen, namentlich sobald sie statistisch gebracht werden, kann
man überhaupt beweisen, was man will. Dagegen sind jene beiden That-
sachen: Rasse und Ideal durchaus grundlegend. Gute und schlechte
Menschen giebt es nicht, für uns wenigstens nicht, nur vor Gott,
denn das Wort "gut" bezieht sich hier auf eine moralische Wert-
schätzung und diese wiederum hängt von einer Kenntnis der Motivation
ab, die nie erschlossen werden kann; "wer kann das Herz ergründen?"
rief schon Jeremia (XVII, 9);1) dagegen giebt es recht wohl gute und
schlechte Rassen, denn hier handelt es sich um physische Verhält-
nisse, um allgemeine Gesetze der organischen Natur, die experimental
untersucht worden sind, um Verhältnisse, wo -- im Gegensatz zu den
oben genannten -- Zahlen unwiderlegliche Beweise erbringen, um
Verhältnisse, über die uns die Geschichte der Menschheit reiche Be-
lehrung bietet. Und kaum minder fassbar sind die leitenden Ideen.

1) Wie Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft sagt (Erläut. der kosmol.
Idee der Freiheit): "Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld)
bleibt uns, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen".

Die Erben.
Gegenteil; wie sich Beides aus denselben Zahlen herausklügeln lässt,
wundert mich, aber noch viel mehr wundert es mich, dass man auf
diese Weise Völkerpsychologie zu treiben wähnt. Kein Mensch stiehlt
zum Vergnügen, er sei denn ein Kleptoman. Ist wirklich der Mann,
der durch Not oder in Folge üblen Beispiels ein Dieb wird, schlechter-
dings ein böser Mann, und derjenige, der nicht die mindeste Veran-
lassung dazu hat, ein guter? Luther sagt: »Wer dem Bäcker Brot
vom Laden nimmt ohne Hungersnot, ist ein Dieb; thut er’s in Hungers-
not, so thut er recht, denn man ist’s schuldig, ihm zu geben«. Man
gebe mir eine Statistik, welche mir zeigt, wie viele Menschen, die in
äusserster Not, Bedrängnis und Verlassenheit leben, nicht Verbrecher
werden; hieraus könnte eventuell etwas geschlossen werden; und doch,
nur wenig, sehr wenig. Waren nicht die Vorfahren unseres Feudal-
adels Strassenräuber? und sind ihre Nachkommen nicht stolz darauf?
Liessen die Päpste nicht Könige durch gedungene Mörder erschlagen?
Gehört nicht in unserer heutigen gesitteten Gesellschaft Lügen und
Prävarizieren einzig noch in der hohen Diplomatie zum guten Ton?
Lassen wir also die Moralität bei Seite, ebenso wie die fast gleich
schlüpfrige Frage nach der Begabung: dass es mehr jüdische als
europäische Rechtsanwälte in einem Lande giebt, beweist doch zunächst
nichts weiter, als dass es dort ein gutes Geschäft ist, Rechtsanwalt zu
sein, eine besondere Begabung gehört nicht dazu — — —. Bei allen
diesen Dingen, namentlich sobald sie statistisch gebracht werden, kann
man überhaupt beweisen, was man will. Dagegen sind jene beiden That-
sachen: Rasse und Ideal durchaus grundlegend. Gute und schlechte
Menschen giebt es nicht, für uns wenigstens nicht, nur vor Gott,
denn das Wort »gut« bezieht sich hier auf eine moralische Wert-
schätzung und diese wiederum hängt von einer Kenntnis der Motivation
ab, die nie erschlossen werden kann; »wer kann das Herz ergründen?«
rief schon Jeremia (XVII, 9);1) dagegen giebt es recht wohl gute und
schlechte Rassen, denn hier handelt es sich um physische Verhält-
nisse, um allgemeine Gesetze der organischen Natur, die experimental
untersucht worden sind, um Verhältnisse, wo — im Gegensatz zu den
oben genannten — Zahlen unwiderlegliche Beweise erbringen, um
Verhältnisse, über die uns die Geschichte der Menschheit reiche Be-
lehrung bietet. Und kaum minder fassbar sind die leitenden Ideen.

1) Wie Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft sagt (Erläut. der kosmol.
Idee der Freiheit): »Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld)
bleibt uns, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen«.
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[456/0479] Die Erben. Gegenteil; wie sich Beides aus denselben Zahlen herausklügeln lässt, wundert mich, aber noch viel mehr wundert es mich, dass man auf diese Weise Völkerpsychologie zu treiben wähnt. Kein Mensch stiehlt zum Vergnügen, er sei denn ein Kleptoman. Ist wirklich der Mann, der durch Not oder in Folge üblen Beispiels ein Dieb wird, schlechter- dings ein böser Mann, und derjenige, der nicht die mindeste Veran- lassung dazu hat, ein guter? Luther sagt: »Wer dem Bäcker Brot vom Laden nimmt ohne Hungersnot, ist ein Dieb; thut er’s in Hungers- not, so thut er recht, denn man ist’s schuldig, ihm zu geben«. Man gebe mir eine Statistik, welche mir zeigt, wie viele Menschen, die in äusserster Not, Bedrängnis und Verlassenheit leben, nicht Verbrecher werden; hieraus könnte eventuell etwas geschlossen werden; und doch, nur wenig, sehr wenig. Waren nicht die Vorfahren unseres Feudal- adels Strassenräuber? und sind ihre Nachkommen nicht stolz darauf? Liessen die Päpste nicht Könige durch gedungene Mörder erschlagen? Gehört nicht in unserer heutigen gesitteten Gesellschaft Lügen und Prävarizieren einzig noch in der hohen Diplomatie zum guten Ton? Lassen wir also die Moralität bei Seite, ebenso wie die fast gleich schlüpfrige Frage nach der Begabung: dass es mehr jüdische als europäische Rechtsanwälte in einem Lande giebt, beweist doch zunächst nichts weiter, als dass es dort ein gutes Geschäft ist, Rechtsanwalt zu sein, eine besondere Begabung gehört nicht dazu — — —. Bei allen diesen Dingen, namentlich sobald sie statistisch gebracht werden, kann man überhaupt beweisen, was man will. Dagegen sind jene beiden That- sachen: Rasse und Ideal durchaus grundlegend. Gute und schlechte Menschen giebt es nicht, für uns wenigstens nicht, nur vor Gott, denn das Wort »gut« bezieht sich hier auf eine moralische Wert- schätzung und diese wiederum hängt von einer Kenntnis der Motivation ab, die nie erschlossen werden kann; »wer kann das Herz ergründen?« rief schon Jeremia (XVII, 9); 1) dagegen giebt es recht wohl gute und schlechte Rassen, denn hier handelt es sich um physische Verhält- nisse, um allgemeine Gesetze der organischen Natur, die experimental untersucht worden sind, um Verhältnisse, wo — im Gegensatz zu den oben genannten — Zahlen unwiderlegliche Beweise erbringen, um Verhältnisse, über die uns die Geschichte der Menschheit reiche Be- lehrung bietet. Und kaum minder fassbar sind die leitenden Ideen. 1) Wie Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft sagt (Erläut. der kosmol. Idee der Freiheit): »Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen«.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/479>, abgerufen am 25.11.2024.