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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
nügen. Gerade durch die Erhabenheit prophetischer Gesinnung, durch
die Glut ihrer Worte ward zum ersten Mal einem jener materialistischen,
an religiösen Vorstellungen besonders armen syrosemitischen Völker
die Kluft zwischen Gott und Mensch aufgedeckt, und nun gähnte sie
drohend, ohne dass der geringste Versuch zu ihrer Überbrückung unter-
nommen worden wäre. Und doch, was anders macht das Wesen
der Religion aus, wenn nicht gerade diese Überbrückung? Das Übrige
ist Philosophie oder Moral. Daher sind wir berechtigt, die Mythologie
Griechenlands eine Religion zu nennen, denn sie vermittelt Vorstel-
lungen und die Nähe des Göttlichen.1) Nicht der Gedanke an einen
Gott, der Himmel und Erde ausgebreitet hat, sondern der Paraklet,
der zwischen ihm und mir hin und her schwebt, bildet den wesent-
lichsten Inhalt aller Religion: Mohammed ist kaum geringer als Allah,
und Christus ist Gott selber zur Erde herabgestiegen. Und da müssen
wir gestehen: Jesaia, der seine Prophezeiungen an den Strassenecken
plakardiert, Jeremia, der scharfsichtigste Politiker seiner Zeit, Deutero-
jesaia, die hehre liebreiche Gestalt aus dem babylonischen Exil, dazu
Amos, der Gutsbesitzer, der in der Korruption der leitenden Stände
eine nationale Gefahr erblickt, Hosea, der die Priester für noch ge-
fährlicher hält, Micha, der sozialdemokratische Bauer, der alle Städte
(samt Jerusalem) von der Erdfläche vertilgen will -- -- das sind
prächtige Männer, in denen wir mit Entzücken gewahren, wie glaubens-
stark und zugleich wie freimütig, wie edel, wie lebensvoll der israe-
litische Geist sich bewegte, ehe ihm Handschellen und Maulknebel
angelegt worden waren, doch religiöse Genies sind sie durchaus
nicht. Hätten sie jene Kraft besessen, die sie nicht besassen, so wäre
ihrem Volk sein herbes Schicksal erspart geblieben; es hätte nicht
weinen müssen, "als es die Worte des Gesetzes vernahm".

Was die Propheten nicht vermocht hatten, das vollbrachten dieDie Rabbiner
Priester und Schriftgelehrten. Die Beziehung zwischen Gott und
Mensch stellten sie durch Fixierung einer fingierten, doch genauen
historischen Tradition, durch Beibehaltung und weitere Ausbildung des
Opferdienstes, und vor Allem durch das sogenannte "Gesetz" her,

1) Nicht unwichtig ist es, hier zu bemerken, wie viel mehr Einsicht in das
Wesen des religiösen Bedürfnisses ein Sokrates zeigt, welcher ebenfalls lehrte,
nicht das Opfer selbst, nicht seine Kostbarkeit errege das Wohlgefallen der Götter,
sondern die innerste Herzensgesinnung des Opfernden, der aber nichtsdestoweniger
die Darbringung der üblichen Opfer für eine Pflicht hielt (Xenophon: Memorabilia I, 3).
Ähnlich Jesus Christus.

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
nügen. Gerade durch die Erhabenheit prophetischer Gesinnung, durch
die Glut ihrer Worte ward zum ersten Mal einem jener materialistischen,
an religiösen Vorstellungen besonders armen syrosemitischen Völker
die Kluft zwischen Gott und Mensch aufgedeckt, und nun gähnte sie
drohend, ohne dass der geringste Versuch zu ihrer Überbrückung unter-
nommen worden wäre. Und doch, was anders macht das Wesen
der Religion aus, wenn nicht gerade diese Überbrückung? Das Übrige
ist Philosophie oder Moral. Daher sind wir berechtigt, die Mythologie
Griechenlands eine Religion zu nennen, denn sie vermittelt Vorstel-
lungen und die Nähe des Göttlichen.1) Nicht der Gedanke an einen
Gott, der Himmel und Erde ausgebreitet hat, sondern der Paraklet,
der zwischen ihm und mir hin und her schwebt, bildet den wesent-
lichsten Inhalt aller Religion: Mohammed ist kaum geringer als Allah,
und Christus ist Gott selber zur Erde herabgestiegen. Und da müssen
wir gestehen: Jesaia, der seine Prophezeiungen an den Strassenecken
plakardiert, Jeremia, der scharfsichtigste Politiker seiner Zeit, Deutero-
jesaia, die hehre liebreiche Gestalt aus dem babylonischen Exil, dazu
Amos, der Gutsbesitzer, der in der Korruption der leitenden Stände
eine nationale Gefahr erblickt, Hosea, der die Priester für noch ge-
fährlicher hält, Micha, der sozialdemokratische Bauer, der alle Städte
(samt Jerusalem) von der Erdfläche vertilgen will — — das sind
prächtige Männer, in denen wir mit Entzücken gewahren, wie glaubens-
stark und zugleich wie freimütig, wie edel, wie lebensvoll der israe-
litische Geist sich bewegte, ehe ihm Handschellen und Maulknebel
angelegt worden waren, doch religiöse Genies sind sie durchaus
nicht. Hätten sie jene Kraft besessen, die sie nicht besassen, so wäre
ihrem Volk sein herbes Schicksal erspart geblieben; es hätte nicht
weinen müssen, »als es die Worte des Gesetzes vernahm«.

Was die Propheten nicht vermocht hatten, das vollbrachten dieDie Rabbiner
Priester und Schriftgelehrten. Die Beziehung zwischen Gott und
Mensch stellten sie durch Fixierung einer fingierten, doch genauen
historischen Tradition, durch Beibehaltung und weitere Ausbildung des
Opferdienstes, und vor Allem durch das sogenannte »Gesetz« her,

1) Nicht unwichtig ist es, hier zu bemerken, wie viel mehr Einsicht in das
Wesen des religiösen Bedürfnisses ein Sokrates zeigt, welcher ebenfalls lehrte,
nicht das Opfer selbst, nicht seine Kostbarkeit errege das Wohlgefallen der Götter,
sondern die innerste Herzensgesinnung des Opfernden, der aber nichtsdestoweniger
die Darbringung der üblichen Opfer für eine Pflicht hielt (Xenophon: Memorabilia I, 3).
Ähnlich Jesus Christus.
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[441/0464] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. nügen. Gerade durch die Erhabenheit prophetischer Gesinnung, durch die Glut ihrer Worte ward zum ersten Mal einem jener materialistischen, an religiösen Vorstellungen besonders armen syrosemitischen Völker die Kluft zwischen Gott und Mensch aufgedeckt, und nun gähnte sie drohend, ohne dass der geringste Versuch zu ihrer Überbrückung unter- nommen worden wäre. Und doch, was anders macht das Wesen der Religion aus, wenn nicht gerade diese Überbrückung? Das Übrige ist Philosophie oder Moral. Daher sind wir berechtigt, die Mythologie Griechenlands eine Religion zu nennen, denn sie vermittelt Vorstel- lungen und die Nähe des Göttlichen. 1) Nicht der Gedanke an einen Gott, der Himmel und Erde ausgebreitet hat, sondern der Paraklet, der zwischen ihm und mir hin und her schwebt, bildet den wesent- lichsten Inhalt aller Religion: Mohammed ist kaum geringer als Allah, und Christus ist Gott selber zur Erde herabgestiegen. Und da müssen wir gestehen: Jesaia, der seine Prophezeiungen an den Strassenecken plakardiert, Jeremia, der scharfsichtigste Politiker seiner Zeit, Deutero- jesaia, die hehre liebreiche Gestalt aus dem babylonischen Exil, dazu Amos, der Gutsbesitzer, der in der Korruption der leitenden Stände eine nationale Gefahr erblickt, Hosea, der die Priester für noch ge- fährlicher hält, Micha, der sozialdemokratische Bauer, der alle Städte (samt Jerusalem) von der Erdfläche vertilgen will — — das sind prächtige Männer, in denen wir mit Entzücken gewahren, wie glaubens- stark und zugleich wie freimütig, wie edel, wie lebensvoll der israe- litische Geist sich bewegte, ehe ihm Handschellen und Maulknebel angelegt worden waren, doch religiöse Genies sind sie durchaus nicht. Hätten sie jene Kraft besessen, die sie nicht besassen, so wäre ihrem Volk sein herbes Schicksal erspart geblieben; es hätte nicht weinen müssen, »als es die Worte des Gesetzes vernahm«. Was die Propheten nicht vermocht hatten, das vollbrachten die Priester und Schriftgelehrten. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch stellten sie durch Fixierung einer fingierten, doch genauen historischen Tradition, durch Beibehaltung und weitere Ausbildung des Opferdienstes, und vor Allem durch das sogenannte »Gesetz« her, Die Rabbiner 1) Nicht unwichtig ist es, hier zu bemerken, wie viel mehr Einsicht in das Wesen des religiösen Bedürfnisses ein Sokrates zeigt, welcher ebenfalls lehrte, nicht das Opfer selbst, nicht seine Kostbarkeit errege das Wohlgefallen der Götter, sondern die innerste Herzensgesinnung des Opfernden, der aber nichtsdestoweniger die Darbringung der üblichen Opfer für eine Pflicht hielt (Xenophon: Memorabilia I, 3). Ähnlich Jesus Christus.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/464>, abgerufen am 11.09.2024.