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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
das Judentum bis zum heutigen Tage stünden "in religiöser und sitt-
licher Beziehung tief unter Jeremia"!1)

Ob aber bei den allgemeinen semitischen Anlagen, die sich auch
in diesen Edelsten zeigen, sehr viel Religion in unsrem Sinne des
Wortes herausgekommen wäre, dünkt mich mehr als zweifelhaft; denn
wie diese Citate (mit Ausnahme der zwei allerletzten) beweisen, ist es
immer Moral, welche die Propheten dem Kultus entgegenstellen, nicht
ein neues oder reformiertes Religionsideal.2) Die jüdischen Propheten
(zu denen man einige Psalmisten rechnen muss) sind gross durch ihre
moralische Grösse, nicht durch schöpferische Kraft; darin zeigen sie
sich als wesentlich Semiten -- bei denen der Wille stets den Mittel-
punkt bildet -- und ihr Wirken auf rein religiösem Gebiet ist zum
grossen Teil lediglich eine Reaktion gegen den kanaanitischen (dem
Mose zugeschriebenen) Kultus, ohne dass sie etwas anderes brächten,
was an dessen Stelle zu setzen wäre. Zu glauben aber, man könne dem
Volk den einen Kultus nehmen, ohne ihm dafür einen anderen zu geben,
zeugt nicht von besonderer Einsicht in den menschlichen Charakter;
ebensowenig wie es von religiösem Verständnis zeugt, wenn die
Propheten wähnten, der Glaube an einen nie vorgestellten, nie dar-
gestellten, eigentlich lediglich in den politischen Ereignissen sich offen-
barenden Gott, dem man allein mit Rechtthun und Demut diene,
könne selbst den allerbescheidensten Bedürfnissen der Phantasie ge-

1) Duhm: Die Theologie der Propheten, S. 251. Jeremia's Ahnung der "Gnade"
verschwand sofort, um nie wiederzukehren; selbst die edelsten, begabtesten Juden,
wie Jesus Sirach, lehren: "wer das Gesetz kennt, ist tugendhaft"; Gott hat den
Menschen erschaffen und ihn dann "seinem eigenen Rate überlassen"; darauf
folgt logischerweise die Lehre der absoluten Willensfreiheit, losgelöst von jedem
göttlichen Beistand: "vor dem Menschen stehen Leben und Tod, was er will,
erwählt er -- -- -- wenn du willst, so kannst du das Gesetz halten" (siehe
z. B. Ecclesiasticus XV, 1, 12--15). Einzig die Essäer bilden eine Ausnahme,
denn nach Josephus lehrten sie die Prädestination (Jüd. Altertümer, 520); diese
Sekte wurde aber auch nie anerkannt, sondern verfolgt, und zählte vermutlich
wenige echte Juden; sie bildet eine vorübergehende, einflusslose Erscheinung.
2) Noch mehr gilt das von solchen späteren Erscheinungen wie Jesus
Sirach, die sich im Grunde genommen damit begnügen, sehr weise, edle Lebens-
regeln zu geben: man solle nicht nach Reichtum streben, sondern nach Mild-
thätigkeit, nicht nach Gelehrsamkeit, sondern nach Weisheit u. s. w. (XXIX, XXXI etc.).
Der einzige (unter griechischem Einfluss unternommene) Versuch des jüdischen
Religionsgeistes ins Metaphysische hinüberzugelangen, endete gar kläglich: der sog.
"Prediger Salomo" weiss nichts Besseres zu empfehlen, als dass man für das Heute
sorgen und sich seiner Werke freuen solle -- "es ist alles ganz eitel!"

Die Erben.
das Judentum bis zum heutigen Tage stünden »in religiöser und sitt-
licher Beziehung tief unter Jeremia«!1)

Ob aber bei den allgemeinen semitischen Anlagen, die sich auch
in diesen Edelsten zeigen, sehr viel Religion in unsrem Sinne des
Wortes herausgekommen wäre, dünkt mich mehr als zweifelhaft; denn
wie diese Citate (mit Ausnahme der zwei allerletzten) beweisen, ist es
immer Moral, welche die Propheten dem Kultus entgegenstellen, nicht
ein neues oder reformiertes Religionsideal.2) Die jüdischen Propheten
(zu denen man einige Psalmisten rechnen muss) sind gross durch ihre
moralische Grösse, nicht durch schöpferische Kraft; darin zeigen sie
sich als wesentlich Semiten — bei denen der Wille stets den Mittel-
punkt bildet — und ihr Wirken auf rein religiösem Gebiet ist zum
grossen Teil lediglich eine Reaktion gegen den kanaanitischen (dem
Mose zugeschriebenen) Kultus, ohne dass sie etwas anderes brächten,
was an dessen Stelle zu setzen wäre. Zu glauben aber, man könne dem
Volk den einen Kultus nehmen, ohne ihm dafür einen anderen zu geben,
zeugt nicht von besonderer Einsicht in den menschlichen Charakter;
ebensowenig wie es von religiösem Verständnis zeugt, wenn die
Propheten wähnten, der Glaube an einen nie vorgestellten, nie dar-
gestellten, eigentlich lediglich in den politischen Ereignissen sich offen-
barenden Gott, dem man allein mit Rechtthun und Demut diene,
könne selbst den allerbescheidensten Bedürfnissen der Phantasie ge-

1) Duhm: Die Theologie der Propheten, S. 251. Jeremia’s Ahnung der »Gnade«
verschwand sofort, um nie wiederzukehren; selbst die edelsten, begabtesten Juden,
wie Jesus Sirach, lehren: »wer das Gesetz kennt, ist tugendhaft«; Gott hat den
Menschen erschaffen und ihn dann »seinem eigenen Rate überlassen«; darauf
folgt logischerweise die Lehre der absoluten Willensfreiheit, losgelöst von jedem
göttlichen Beistand: »vor dem Menschen stehen Leben und Tod, was er will,
erwählt er — — — wenn du willst, so kannst du das Gesetz halten« (siehe
z. B. Ecclesiasticus XV, 1, 12—15). Einzig die Essäer bilden eine Ausnahme,
denn nach Josephus lehrten sie die Prädestination (Jüd. Altertümer, 520); diese
Sekte wurde aber auch nie anerkannt, sondern verfolgt, und zählte vermutlich
wenige echte Juden; sie bildet eine vorübergehende, einflusslose Erscheinung.
2) Noch mehr gilt das von solchen späteren Erscheinungen wie Jesus
Sirach, die sich im Grunde genommen damit begnügen, sehr weise, edle Lebens-
regeln zu geben: man solle nicht nach Reichtum streben, sondern nach Mild-
thätigkeit, nicht nach Gelehrsamkeit, sondern nach Weisheit u. s. w. (XXIX, XXXI etc.).
Der einzige (unter griechischem Einfluss unternommene) Versuch des jüdischen
Religionsgeistes ins Metaphysische hinüberzugelangen, endete gar kläglich: der sog.
»Prediger Salomo« weiss nichts Besseres zu empfehlen, als dass man für das Heute
sorgen und sich seiner Werke freuen solle — »es ist alles ganz eitel!«
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[440/0463] Die Erben. das Judentum bis zum heutigen Tage stünden »in religiöser und sitt- licher Beziehung tief unter Jeremia«! 1) Ob aber bei den allgemeinen semitischen Anlagen, die sich auch in diesen Edelsten zeigen, sehr viel Religion in unsrem Sinne des Wortes herausgekommen wäre, dünkt mich mehr als zweifelhaft; denn wie diese Citate (mit Ausnahme der zwei allerletzten) beweisen, ist es immer Moral, welche die Propheten dem Kultus entgegenstellen, nicht ein neues oder reformiertes Religionsideal. 2) Die jüdischen Propheten (zu denen man einige Psalmisten rechnen muss) sind gross durch ihre moralische Grösse, nicht durch schöpferische Kraft; darin zeigen sie sich als wesentlich Semiten — bei denen der Wille stets den Mittel- punkt bildet — und ihr Wirken auf rein religiösem Gebiet ist zum grossen Teil lediglich eine Reaktion gegen den kanaanitischen (dem Mose zugeschriebenen) Kultus, ohne dass sie etwas anderes brächten, was an dessen Stelle zu setzen wäre. Zu glauben aber, man könne dem Volk den einen Kultus nehmen, ohne ihm dafür einen anderen zu geben, zeugt nicht von besonderer Einsicht in den menschlichen Charakter; ebensowenig wie es von religiösem Verständnis zeugt, wenn die Propheten wähnten, der Glaube an einen nie vorgestellten, nie dar- gestellten, eigentlich lediglich in den politischen Ereignissen sich offen- barenden Gott, dem man allein mit Rechtthun und Demut diene, könne selbst den allerbescheidensten Bedürfnissen der Phantasie ge- 1) Duhm: Die Theologie der Propheten, S. 251. Jeremia’s Ahnung der »Gnade« verschwand sofort, um nie wiederzukehren; selbst die edelsten, begabtesten Juden, wie Jesus Sirach, lehren: »wer das Gesetz kennt, ist tugendhaft«; Gott hat den Menschen erschaffen und ihn dann »seinem eigenen Rate überlassen«; darauf folgt logischerweise die Lehre der absoluten Willensfreiheit, losgelöst von jedem göttlichen Beistand: »vor dem Menschen stehen Leben und Tod, was er will, erwählt er — — — wenn du willst, so kannst du das Gesetz halten« (siehe z. B. Ecclesiasticus XV, 1, 12—15). Einzig die Essäer bilden eine Ausnahme, denn nach Josephus lehrten sie die Prädestination (Jüd. Altertümer, 520); diese Sekte wurde aber auch nie anerkannt, sondern verfolgt, und zählte vermutlich wenige echte Juden; sie bildet eine vorübergehende, einflusslose Erscheinung. 2) Noch mehr gilt das von solchen späteren Erscheinungen wie Jesus Sirach, die sich im Grunde genommen damit begnügen, sehr weise, edle Lebens- regeln zu geben: man solle nicht nach Reichtum streben, sondern nach Mild- thätigkeit, nicht nach Gelehrsamkeit, sondern nach Weisheit u. s. w. (XXIX, XXXI etc.). Der einzige (unter griechischem Einfluss unternommene) Versuch des jüdischen Religionsgeistes ins Metaphysische hinüberzugelangen, endete gar kläglich: der sog. »Prediger Salomo« weiss nichts Besseres zu empfehlen, als dass man für das Heute sorgen und sich seiner Werke freuen solle — »es ist alles ganz eitel!«

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/463>, abgerufen am 11.09.2024.