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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
pheten, wie man sieht, darauf hinausläuft, die Frömmigkeit ins Herz
zu legen: nicht wer opfert, sondern wer Gutes thut, nicht wer Sabbate
hält, sondern wer den Bedrückten beschützt, ist nach ihrer Auffassung
fromm. Auch muss bemerkt werden, dass der Nationalismus bei den
Propheten in keinem einzigen Fall (abgesehen von den nachträglichen
Interpolationen) den dogmatischen und unmenschlichen Charakter des
späteren offiziellen Glaubens zeigt. Amos, ein herrlicher Mann, den die
grosse Synagoge arg zugerichtet hat, macht die einzige humoristische
Bemerkung, welche vielleicht die gesamte biblische Litteratur auf-
weisen kann: "Seid ihr Kinder Israels mir nicht gleich wie die Mohren,
spricht der Herr?" (IX, 7). Und er meint des Weiteren, ebenso wie
Gott die Israeliten aus Ägypten, desgleichen habe er auch die Philister
aus Caphthor und die Syrier aus Kir geführt! Ähnlich tolerant schreibt
Micha: "Ein jegliches Volk wird wandeln im Namen seines Gottes, aber
wir werden wandeln im Namen unseres Gottes" (IV, 5). Deuterojesaia,
der einzige wirkliche und bewusste Monotheist, sagt einfach: "Gott der
ganzen Welt wird er geheissen" (LIV, 5). Auch hier ist also eine
Richtung deutlich vorgezeichnet, die später gewaltsam abgeschnitten
wurde. Damit zugleich war jene vielverheissende Neigung, waren
jene tastenden Versuche nach einer minder historischen, echteren
Religion, nach einer Religion der individuellen Seele im Gegensatz
zum Glauben an Volksschicksale im Keime erstickt; natürlich lebte
sie in vielen einzelnen Herzen immer wieder von Neuem auf, doch
konnte sie dem durch den Priesterkodex erstarrten Organismus kein
Leben mehr einflössen, denn für Entwickelung war kein Raum mehr.
Und doch hatte Jeremia bedeutende Ansätze in diesem Sinne gemacht;
er (oder irgend ein Anderer in seinem Namen) hatte Gott sagen lassen:
"Ich kann das Herz ergründen und die Nieren prüfen und geben
einem Jeglichen nach seinem Thun" (XVII, 10). Ja, man glaubt, in
absolutem Widerspruch zur Werkheiligkeit des Judentums (von dem
sie der Katholizismus übernommen hat) die Vorstellung der Gnade
durchschimmern zu sehen, wenn Jeremia inbrünstig ausruft: "Heile
du mich, Herr, so werde ich heil! Hilf du mir, so ist mir geholfen!"
(XVII, 14). Und mit Deuterojesaia's schönem Vers, in welchem Gott
redet: "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege
sind nicht meine Wege," stehen wir an der Schwelle jener Ahnung
eines transcendenten Geheimnisses, wo für die Inder und für Jesus
Christus wahre Religion beginnt. Wie Recht hat der Theologe Duhm,
wenn er schreibt, die Deuteronomiker und Hesekiel, und mit ihnen

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
pheten, wie man sieht, darauf hinausläuft, die Frömmigkeit ins Herz
zu legen: nicht wer opfert, sondern wer Gutes thut, nicht wer Sabbate
hält, sondern wer den Bedrückten beschützt, ist nach ihrer Auffassung
fromm. Auch muss bemerkt werden, dass der Nationalismus bei den
Propheten in keinem einzigen Fall (abgesehen von den nachträglichen
Interpolationen) den dogmatischen und unmenschlichen Charakter des
späteren offiziellen Glaubens zeigt. Amos, ein herrlicher Mann, den die
grosse Synagoge arg zugerichtet hat, macht die einzige humoristische
Bemerkung, welche vielleicht die gesamte biblische Litteratur auf-
weisen kann: »Seid ihr Kinder Israels mir nicht gleich wie die Mohren,
spricht der Herr?« (IX, 7). Und er meint des Weiteren, ebenso wie
Gott die Israeliten aus Ägypten, desgleichen habe er auch die Philister
aus Caphthor und die Syrier aus Kir geführt! Ähnlich tolerant schreibt
Micha: »Ein jegliches Volk wird wandeln im Namen seines Gottes, aber
wir werden wandeln im Namen unseres Gottes« (IV, 5). Deuterojesaia,
der einzige wirkliche und bewusste Monotheist, sagt einfach: »Gott der
ganzen Welt wird er geheissen« (LIV, 5). Auch hier ist also eine
Richtung deutlich vorgezeichnet, die später gewaltsam abgeschnitten
wurde. Damit zugleich war jene vielverheissende Neigung, waren
jene tastenden Versuche nach einer minder historischen, echteren
Religion, nach einer Religion der individuellen Seele im Gegensatz
zum Glauben an Volksschicksale im Keime erstickt; natürlich lebte
sie in vielen einzelnen Herzen immer wieder von Neuem auf, doch
konnte sie dem durch den Priesterkodex erstarrten Organismus kein
Leben mehr einflössen, denn für Entwickelung war kein Raum mehr.
Und doch hatte Jeremia bedeutende Ansätze in diesem Sinne gemacht;
er (oder irgend ein Anderer in seinem Namen) hatte Gott sagen lassen:
»Ich kann das Herz ergründen und die Nieren prüfen und geben
einem Jeglichen nach seinem Thun« (XVII, 10). Ja, man glaubt, in
absolutem Widerspruch zur Werkheiligkeit des Judentums (von dem
sie der Katholizismus übernommen hat) die Vorstellung der Gnade
durchschimmern zu sehen, wenn Jeremia inbrünstig ausruft: »Heile
du mich, Herr, so werde ich heil! Hilf du mir, so ist mir geholfen!«
(XVII, 14). Und mit Deuterojesaia’s schönem Vers, in welchem Gott
redet: »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege
sind nicht meine Wege,« stehen wir an der Schwelle jener Ahnung
eines transcendenten Geheimnisses, wo für die Inder und für Jesus
Christus wahre Religion beginnt. Wie Recht hat der Theologe Duhm,
wenn er schreibt, die Deuteronomiker und Hesekiel, und mit ihnen

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[439/0462] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. pheten, wie man sieht, darauf hinausläuft, die Frömmigkeit ins Herz zu legen: nicht wer opfert, sondern wer Gutes thut, nicht wer Sabbate hält, sondern wer den Bedrückten beschützt, ist nach ihrer Auffassung fromm. Auch muss bemerkt werden, dass der Nationalismus bei den Propheten in keinem einzigen Fall (abgesehen von den nachträglichen Interpolationen) den dogmatischen und unmenschlichen Charakter des späteren offiziellen Glaubens zeigt. Amos, ein herrlicher Mann, den die grosse Synagoge arg zugerichtet hat, macht die einzige humoristische Bemerkung, welche vielleicht die gesamte biblische Litteratur auf- weisen kann: »Seid ihr Kinder Israels mir nicht gleich wie die Mohren, spricht der Herr?« (IX, 7). Und er meint des Weiteren, ebenso wie Gott die Israeliten aus Ägypten, desgleichen habe er auch die Philister aus Caphthor und die Syrier aus Kir geführt! Ähnlich tolerant schreibt Micha: »Ein jegliches Volk wird wandeln im Namen seines Gottes, aber wir werden wandeln im Namen unseres Gottes« (IV, 5). Deuterojesaia, der einzige wirkliche und bewusste Monotheist, sagt einfach: »Gott der ganzen Welt wird er geheissen« (LIV, 5). Auch hier ist also eine Richtung deutlich vorgezeichnet, die später gewaltsam abgeschnitten wurde. Damit zugleich war jene vielverheissende Neigung, waren jene tastenden Versuche nach einer minder historischen, echteren Religion, nach einer Religion der individuellen Seele im Gegensatz zum Glauben an Volksschicksale im Keime erstickt; natürlich lebte sie in vielen einzelnen Herzen immer wieder von Neuem auf, doch konnte sie dem durch den Priesterkodex erstarrten Organismus kein Leben mehr einflössen, denn für Entwickelung war kein Raum mehr. Und doch hatte Jeremia bedeutende Ansätze in diesem Sinne gemacht; er (oder irgend ein Anderer in seinem Namen) hatte Gott sagen lassen: »Ich kann das Herz ergründen und die Nieren prüfen und geben einem Jeglichen nach seinem Thun« (XVII, 10). Ja, man glaubt, in absolutem Widerspruch zur Werkheiligkeit des Judentums (von dem sie der Katholizismus übernommen hat) die Vorstellung der Gnade durchschimmern zu sehen, wenn Jeremia inbrünstig ausruft: »Heile du mich, Herr, so werde ich heil! Hilf du mir, so ist mir geholfen!« (XVII, 14). Und mit Deuterojesaia’s schönem Vers, in welchem Gott redet: »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege,« stehen wir an der Schwelle jener Ahnung eines transcendenten Geheimnisses, wo für die Inder und für Jesus Christus wahre Religion beginnt. Wie Recht hat der Theologe Duhm, wenn er schreibt, die Deuteronomiker und Hesekiel, und mit ihnen

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/462>, abgerufen am 11.09.2024.