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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
geht in der ihm eigenen heftigen Weise noch weiter; er stellt sich
in dem Thorwege des Tempels zu Jerusalem auf, und ruft den Ein-
tretenden zu: "Verlasst euch nicht auf die Lügen, wenn sie sagen
,Hier ist des Herrn Tempel! hier ist des Herrn Tempel!' sondern
bessert euer Leben und Wesen, dass ihr Recht thut, Einer gegen den
Andern, und den Fremdlingen, Waisen und Witwen keine Gewalt
thut, und nicht unschuldig Blut vergiesst (d. h. nicht opfert) an diesem
Ort" (VII, 4--6); selbst von der altgeheiligten Bundeslade will Jeremia
nichts wissen, man solle ihrer "nicht mehr gedenken, noch davon
predigen, noch sie besuchen, noch daselbst opfern" (III, 16). Auch in
den Psalmen lesen wir: "Du hast nicht Lust zum Opfer, und Brand-
opfer gefallen dir nicht. Das Opfer, das Gott gefällt, das ist ein zer-
schlagener Geist. O Gott! du verachtest ein zerschlagenes, betrübtes
Herz nicht!" (LI, 18--19).1) Dass auf alle diese Äusserungen fanatisch-
nationale folgen, wie: Jerusalem sei Gottes Thron, alle anderen Götter
seien Götzen, u. s. w., zeigt eine den Zeiten gemässe Beschränkung,2)
hebt aber doch unmöglich die Thatsache auf, dass alle diese Männer
eine progressive Vereinfachung des Kultus erstrebt, und die Speise-
opfer ebenso wie die Yoruba-Neger an der Sklavenküste (siehe S. 395)
für unsinnig erklärt, ja womöglich die Abschaffung jeglichen Tempel-
dienstes gefordert hatten, wie jener grosse Ungenannte,3) bei welchem
Gott spricht: "Der Himmel ist mein Stuhl und die Erde meine Fuss-
bank; was ist es denn für ein Haus, das ihr mir bauen wollt? Oder
welches ist die Stätte, da ich ruhen soll? -- -- Meine Augen richte
ich auf andere Dinge: auf den Elenden und der zerbrochenen Geistes
ist und auf den, der mein Wort fürchtet" (LXVI, 1, 2). Schärfer
könnte der Kontrast zu dem bald darauf eingeführten Gesetz der
Thora nicht sein. Namentlich auch weil die ganze Tendenz der Pro-

1) Siehe auch XL, 7 und L, 13.
2) Nachgewiesenermassen sind ausserdem fast alle derartige Stellen Inter-
polationen aus sehr später Zeit.
3) Über den meist als Jesaia II oder Deuterojesaia bezeichneten Verfasser
der Kapitel XL bis LV des Buches Jesaia (der Einzige, der hin und wieder an
Christus gemahnt, und dessen Namen die Juden charakteristischer Weise, gleich
nachdem er gelebt hatte, nicht mehr wussten, wo sie sonst die Genealogien ins
hundertste Glied verfolgen) siehe namentlich Cheyne: Introduction to the Book of
Isaiah
(1895) und Duhm: Jesaia (1892). Deuterojesaia schrieb in der zweiten
Hälfte des Exils, also anderthalb Jahrhunderte später als der historische Jesaia.
Nach Cheyne sind die Kapitel LVI bis LXVI, die meistens dem Deuterojesaia
zugeschrieben werden, wiederum von einem anderen, noch späteren Autor.

Die Erben.
geht in der ihm eigenen heftigen Weise noch weiter; er stellt sich
in dem Thorwege des Tempels zu Jerusalem auf, und ruft den Ein-
tretenden zu: »Verlasst euch nicht auf die Lügen, wenn sie sagen
‚Hier ist des Herrn Tempel! hier ist des Herrn Tempel!‘ sondern
bessert euer Leben und Wesen, dass ihr Recht thut, Einer gegen den
Andern, und den Fremdlingen, Waisen und Witwen keine Gewalt
thut, und nicht unschuldig Blut vergiesst (d. h. nicht opfert) an diesem
Ort« (VII, 4—6); selbst von der altgeheiligten Bundeslade will Jeremia
nichts wissen, man solle ihrer »nicht mehr gedenken, noch davon
predigen, noch sie besuchen, noch daselbst opfern« (III, 16). Auch in
den Psalmen lesen wir: »Du hast nicht Lust zum Opfer, und Brand-
opfer gefallen dir nicht. Das Opfer, das Gott gefällt, das ist ein zer-
schlagener Geist. O Gott! du verachtest ein zerschlagenes, betrübtes
Herz nicht!« (LI, 18—19).1) Dass auf alle diese Äusserungen fanatisch-
nationale folgen, wie: Jerusalem sei Gottes Thron, alle anderen Götter
seien Götzen, u. s. w., zeigt eine den Zeiten gemässe Beschränkung,2)
hebt aber doch unmöglich die Thatsache auf, dass alle diese Männer
eine progressive Vereinfachung des Kultus erstrebt, und die Speise-
opfer ebenso wie die Yoruba-Neger an der Sklavenküste (siehe S. 395)
für unsinnig erklärt, ja womöglich die Abschaffung jeglichen Tempel-
dienstes gefordert hatten, wie jener grosse Ungenannte,3) bei welchem
Gott spricht: »Der Himmel ist mein Stuhl und die Erde meine Fuss-
bank; was ist es denn für ein Haus, das ihr mir bauen wollt? Oder
welches ist die Stätte, da ich ruhen soll? — — Meine Augen richte
ich auf andere Dinge: auf den Elenden und der zerbrochenen Geistes
ist und auf den, der mein Wort fürchtet« (LXVI, 1, 2). Schärfer
könnte der Kontrast zu dem bald darauf eingeführten Gesetz der
Thora nicht sein. Namentlich auch weil die ganze Tendenz der Pro-

1) Siehe auch XL, 7 und L, 13.
2) Nachgewiesenermassen sind ausserdem fast alle derartige Stellen Inter-
polationen aus sehr später Zeit.
3) Über den meist als Jesaia II oder Deuterojesaia bezeichneten Verfasser
der Kapitel XL bis LV des Buches Jesaia (der Einzige, der hin und wieder an
Christus gemahnt, und dessen Namen die Juden charakteristischer Weise, gleich
nachdem er gelebt hatte, nicht mehr wussten, wo sie sonst die Genealogien ins
hundertste Glied verfolgen) siehe namentlich Cheyne: Introduction to the Book of
Isaiah
(1895) und Duhm: Jesaia (1892). Deuterojesaia schrieb in der zweiten
Hälfte des Exils, also anderthalb Jahrhunderte später als der historische Jesaia.
Nach Cheyne sind die Kapitel LVI bis LXVI, die meistens dem Deuterojesaia
zugeschrieben werden, wiederum von einem anderen, noch späteren Autor.
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[438/0461] Die Erben. geht in der ihm eigenen heftigen Weise noch weiter; er stellt sich in dem Thorwege des Tempels zu Jerusalem auf, und ruft den Ein- tretenden zu: »Verlasst euch nicht auf die Lügen, wenn sie sagen ‚Hier ist des Herrn Tempel! hier ist des Herrn Tempel!‘ sondern bessert euer Leben und Wesen, dass ihr Recht thut, Einer gegen den Andern, und den Fremdlingen, Waisen und Witwen keine Gewalt thut, und nicht unschuldig Blut vergiesst (d. h. nicht opfert) an diesem Ort« (VII, 4—6); selbst von der altgeheiligten Bundeslade will Jeremia nichts wissen, man solle ihrer »nicht mehr gedenken, noch davon predigen, noch sie besuchen, noch daselbst opfern« (III, 16). Auch in den Psalmen lesen wir: »Du hast nicht Lust zum Opfer, und Brand- opfer gefallen dir nicht. Das Opfer, das Gott gefällt, das ist ein zer- schlagener Geist. O Gott! du verachtest ein zerschlagenes, betrübtes Herz nicht!« (LI, 18—19). 1) Dass auf alle diese Äusserungen fanatisch- nationale folgen, wie: Jerusalem sei Gottes Thron, alle anderen Götter seien Götzen, u. s. w., zeigt eine den Zeiten gemässe Beschränkung, 2) hebt aber doch unmöglich die Thatsache auf, dass alle diese Männer eine progressive Vereinfachung des Kultus erstrebt, und die Speise- opfer ebenso wie die Yoruba-Neger an der Sklavenküste (siehe S. 395) für unsinnig erklärt, ja womöglich die Abschaffung jeglichen Tempel- dienstes gefordert hatten, wie jener grosse Ungenannte, 3) bei welchem Gott spricht: »Der Himmel ist mein Stuhl und die Erde meine Fuss- bank; was ist es denn für ein Haus, das ihr mir bauen wollt? Oder welches ist die Stätte, da ich ruhen soll? — — Meine Augen richte ich auf andere Dinge: auf den Elenden und der zerbrochenen Geistes ist und auf den, der mein Wort fürchtet« (LXVI, 1, 2). Schärfer könnte der Kontrast zu dem bald darauf eingeführten Gesetz der Thora nicht sein. Namentlich auch weil die ganze Tendenz der Pro- 1) Siehe auch XL, 7 und L, 13. 2) Nachgewiesenermassen sind ausserdem fast alle derartige Stellen Inter- polationen aus sehr später Zeit. 3) Über den meist als Jesaia II oder Deuterojesaia bezeichneten Verfasser der Kapitel XL bis LV des Buches Jesaia (der Einzige, der hin und wieder an Christus gemahnt, und dessen Namen die Juden charakteristischer Weise, gleich nachdem er gelebt hatte, nicht mehr wussten, wo sie sonst die Genealogien ins hundertste Glied verfolgen) siehe namentlich Cheyne: Introduction to the Book of Isaiah (1895) und Duhm: Jesaia (1892). Deuterojesaia schrieb in der zweiten Hälfte des Exils, also anderthalb Jahrhunderte später als der historische Jesaia. Nach Cheyne sind die Kapitel LVI bis LXVI, die meistens dem Deuterojesaia zugeschrieben werden, wiederum von einem anderen, noch späteren Autor.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/461>, abgerufen am 11.09.2024.