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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
was sie erstrebten und lehrten und den Lehren der jerusalemitischen
Hierokraten wird ersichtlich, wie sehr der Jude zum "Juden" erst
gemacht wurde, künstlich gemacht (sozusagen), und zwar durch die
bewusste, wohlberechnete religiöse Politik einzelner Männer und einzelner
Kreise, und im Gegensatz zu jeder organischen Entwickelung. Für
eine gerechte Beurteilung des israelitischen Charakters, der im Judentum
gewissermassen strandete, ist es nötig, dies zu betonen. In dem neuen
Bund stehen die Kultusobservanzen im Mittelpunkt; das Wort "Heilig-
keit", welches so oft vorkommt, bedeutet in erster Reihe durchaus
nichts anderes als die strikte Observanz aller Verordnungen,1) an eine
Reinheit des Herzens wird dabei kaum gedacht,2) "die Reinheit der
Haut und des Geschirrs ist wichtiger" (wie Reuss mit einiger Über-
treibung sagt;3) und in der Mitte dieser Observanzen steht als Heiligstes
ein ungemein kompliziertes Opferrituell.4) Eine flagrantere Abweichung
von prophetischer Lehre ist kaum denkbar. Man höre nur! Hosea
hatte Gott sagen lassen: "Ich habe Lust an der Frömmigkeit und
nicht am Opfer, und an der Erkenntnis Gottes, nicht am Brandopfer"
(VI, 6). Amos habe ich schon citiert (S. 436). Micha schreibt: "Wo-
mit soll ich den Herrn versöhnen? Mit Bücken vor dem hohen Gott?
Soll ich mit Brandopfern und jährlichen Kälbern ihn versöhnen? ....
Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir
fordert, nämlich Gerechtigkeit üben, barmherzig sein und vor deinem
Gott demütig" (VI, 8). Jesaia äussert sich genau ebenso, nur viel aus-
führlicher, und wie durch ein Wunder ist ein Spruch von ihm ge-
blieben, in welchem er erklärt, "Gott möge den Sabbat nicht" und
"hasse in der Seele die Neumonde und festgesetzten Feiertage!" --
dagegen solle das Volk sich lieber mit anderen Dingen abgeben,
"lernen Gutes thun, nach Recht trachten, dem Unterdrückten helfen,
den Waisen Recht schaffen, der Witwe helfen" (I, 13--17). Jeremia

1) Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, p. 236.
2) Robertson Smith: Prophets of Israels, p. 424.
3) Geschichte der heiligen Schriften Alten Testaments, § 379.
4) Wer sich hiervon eine Vorstellung machen will, lese ausser den Büchern
Leviticus, Numeri u. s. w., die elf Traktate der Opferangelegenheiten (Kodaschim)
im babylonischen Talmud (deren haggadische Bestandteile den vierten Band von
Wünsche's einzig massgebender Übersetzung bilden). Man kann auch nicht be-
haupten, dass die Juden seit der Zerstörung Jerusalems dieses Rituell losgeworden
wären, denn sie studieren es nach wie vor und gewisse Dinge, z. B. das Schächten,
gehören dazu, weswegen das von einem Nichtjuden geschlachtete Vieh den Juden
als "Aas" gilt (siehe Traktat Chullin f. 13 b).

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
was sie erstrebten und lehrten und den Lehren der jerusalemitischen
Hierokraten wird ersichtlich, wie sehr der Jude zum »Juden« erst
gemacht wurde, künstlich gemacht (sozusagen), und zwar durch die
bewusste, wohlberechnete religiöse Politik einzelner Männer und einzelner
Kreise, und im Gegensatz zu jeder organischen Entwickelung. Für
eine gerechte Beurteilung des israelitischen Charakters, der im Judentum
gewissermassen strandete, ist es nötig, dies zu betonen. In dem neuen
Bund stehen die Kultusobservanzen im Mittelpunkt; das Wort »Heilig-
keit«, welches so oft vorkommt, bedeutet in erster Reihe durchaus
nichts anderes als die strikte Observanz aller Verordnungen,1) an eine
Reinheit des Herzens wird dabei kaum gedacht,2) »die Reinheit der
Haut und des Geschirrs ist wichtiger« (wie Reuss mit einiger Über-
treibung sagt;3) und in der Mitte dieser Observanzen steht als Heiligstes
ein ungemein kompliziertes Opferrituell.4) Eine flagrantere Abweichung
von prophetischer Lehre ist kaum denkbar. Man höre nur! Hosea
hatte Gott sagen lassen: »Ich habe Lust an der Frömmigkeit und
nicht am Opfer, und an der Erkenntnis Gottes, nicht am Brandopfer«
(VI, 6). Amos habe ich schon citiert (S. 436). Micha schreibt: »Wo-
mit soll ich den Herrn versöhnen? Mit Bücken vor dem hohen Gott?
Soll ich mit Brandopfern und jährlichen Kälbern ihn versöhnen? ....
Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir
fordert, nämlich Gerechtigkeit üben, barmherzig sein und vor deinem
Gott demütig« (VI, 8). Jesaia äussert sich genau ebenso, nur viel aus-
führlicher, und wie durch ein Wunder ist ein Spruch von ihm ge-
blieben, in welchem er erklärt, »Gott möge den Sabbat nicht« und
»hasse in der Seele die Neumonde und festgesetzten Feiertage!« —
dagegen solle das Volk sich lieber mit anderen Dingen abgeben,
»lernen Gutes thun, nach Recht trachten, dem Unterdrückten helfen,
den Waisen Recht schaffen, der Witwe helfen« (I, 13—17). Jeremia

1) Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, p. 236.
2) Robertson Smith: Prophets of Israels, p. 424.
3) Geschichte der heiligen Schriften Alten Testaments, § 379.
4) Wer sich hiervon eine Vorstellung machen will, lese ausser den Büchern
Leviticus, Numeri u. s. w., die elf Traktate der Opferangelegenheiten (Kodaschim)
im babylonischen Talmud (deren haggadische Bestandteile den vierten Band von
Wünsche’s einzig massgebender Übersetzung bilden). Man kann auch nicht be-
haupten, dass die Juden seit der Zerstörung Jerusalems dieses Rituell losgeworden
wären, denn sie studieren es nach wie vor und gewisse Dinge, z. B. das Schächten,
gehören dazu, weswegen das von einem Nichtjuden geschlachtete Vieh den Juden
als »Aas« gilt (siehe Traktat Chullin f. 13 b).
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[437/0460] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. was sie erstrebten und lehrten und den Lehren der jerusalemitischen Hierokraten wird ersichtlich, wie sehr der Jude zum »Juden« erst gemacht wurde, künstlich gemacht (sozusagen), und zwar durch die bewusste, wohlberechnete religiöse Politik einzelner Männer und einzelner Kreise, und im Gegensatz zu jeder organischen Entwickelung. Für eine gerechte Beurteilung des israelitischen Charakters, der im Judentum gewissermassen strandete, ist es nötig, dies zu betonen. In dem neuen Bund stehen die Kultusobservanzen im Mittelpunkt; das Wort »Heilig- keit«, welches so oft vorkommt, bedeutet in erster Reihe durchaus nichts anderes als die strikte Observanz aller Verordnungen, 1) an eine Reinheit des Herzens wird dabei kaum gedacht, 2) »die Reinheit der Haut und des Geschirrs ist wichtiger« (wie Reuss mit einiger Über- treibung sagt; 3) und in der Mitte dieser Observanzen steht als Heiligstes ein ungemein kompliziertes Opferrituell. 4) Eine flagrantere Abweichung von prophetischer Lehre ist kaum denkbar. Man höre nur! Hosea hatte Gott sagen lassen: »Ich habe Lust an der Frömmigkeit und nicht am Opfer, und an der Erkenntnis Gottes, nicht am Brandopfer« (VI, 6). Amos habe ich schon citiert (S. 436). Micha schreibt: »Wo- mit soll ich den Herrn versöhnen? Mit Bücken vor dem hohen Gott? Soll ich mit Brandopfern und jährlichen Kälbern ihn versöhnen? .... Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gerechtigkeit üben, barmherzig sein und vor deinem Gott demütig« (VI, 8). Jesaia äussert sich genau ebenso, nur viel aus- führlicher, und wie durch ein Wunder ist ein Spruch von ihm ge- blieben, in welchem er erklärt, »Gott möge den Sabbat nicht« und »hasse in der Seele die Neumonde und festgesetzten Feiertage!« — dagegen solle das Volk sich lieber mit anderen Dingen abgeben, »lernen Gutes thun, nach Recht trachten, dem Unterdrückten helfen, den Waisen Recht schaffen, der Witwe helfen« (I, 13—17). Jeremia 1) Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, p. 236. 2) Robertson Smith: Prophets of Israels, p. 424. 3) Geschichte der heiligen Schriften Alten Testaments, § 379. 4) Wer sich hiervon eine Vorstellung machen will, lese ausser den Büchern Leviticus, Numeri u. s. w., die elf Traktate der Opferangelegenheiten (Kodaschim) im babylonischen Talmud (deren haggadische Bestandteile den vierten Band von Wünsche’s einzig massgebender Übersetzung bilden). Man kann auch nicht be- haupten, dass die Juden seit der Zerstörung Jerusalems dieses Rituell losgeworden wären, denn sie studieren es nach wie vor und gewisse Dinge, z. B. das Schächten, gehören dazu, weswegen das von einem Nichtjuden geschlachtete Vieh den Juden als »Aas« gilt (siehe Traktat Chullin f. 13 b).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/460>, abgerufen am 22.11.2024.