Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Die Erben. blicken wie die, welche von dem orgiastischen Tanz um das Stierbild(in ganz Israel und Juda noch kurz vor dem Exil üblich) bis zum Gott des Amos führt, der "die Feiertage verachtet" und "keinen Gefallen am Brandopfer hat" (V, 21, 22), und bis zu Deuterojesaia, der jeden Tempelbau für Gottes unwürdig hält, dem Opfer und Weih- rauch "Greuel" sind, und der die fast indischen Worte schreibt: "Wer einen Ochsen schlachtet, ist eben als der einen Mann erschlüge" (Jesaia LXVI, 1--3). Fortan war jedoch alle Entwickelung abgebrochen. Und was ich tausend Mal wiederholen muss, denn Niemand sagt es und es ist doch das Einzige, was Not thut zu sagen, das Einzige, was auch die Stellung der Juden unter uns Kindern des neunzehnten Jahrhunderts begreiflich macht: diese sogenannte "Reform" Esra's, welche in Wahr- heit die Begründung des Judentums bedeutet, diese Reform, welche aus dem Zusammentreffen der fünf von mir aufgezählten historischen Umstände die Möglichkeit ihres Daseins schöpfte, bedeutet nicht eine Stufe in der religiösen Entwickelung, sondern ist eine heftige Re- aktion gegen jegliche Entwickelung; sie lässt den Baum aufrecht, schneidet aber unterirdisch alle Wurzeln ab; nun mag er stehen und verdorren, ringsum von den sauber zugehauenen 13 600 Pfählen des Gesetzes unterstützt, auf dass er nicht umfalle. Wenn also selbst ein so bedeutender Gelehrter wie Delitzsch schreibt: "Die Thora spiegelt einen jahrtausendlangen Prozess der Fortbewegung des mosaischen Gesetzes in Bewusstsein und Praxis Israel's", so müssen wir dagegen einwenden, dass die Thora im Gegenteil alles thut, was sie nur irgend kann, um den Entwickelungsprozess der bis zu ihr stattgefunden hatte, zu maskieren; dass sie vor keiner Unwahrheit zurückscheut, um das Gesetz als ein absolut unbewegliches, von jeher da gewesenes hin- zustellen, nicht einmal vor solchen handgreiflichen Absurditäten wie die Mähre von der Stiftshütte und ihrer Einrichtung; und wir müssen behaupten, dass die Thora nicht allein gegen den angeblichen "Götzen- dienst" (aus dem der ganze jüdische Kultus hervorgegangen war) ge- richtet ist, sondern eben so sehr gegen den freien Geist echter Religion, der sich in den Propheten zu regen begonnen hatte. Kein einziger jener grossen Männer, weder Elias, noch Amos, noch Hosea, noch Micha, noch Jesaia, noch Jeremia, noch Deuterojesaia hätte sein Siegel unter jenes Dokument des neuen Bundes gesetzt -- er hätte ja erst seine eigenen Worte herunterschlucken müssen. Propheten. Einen Augenblick muss ich mich bei den soeben genannten Pro- Die Erben. blicken wie die, welche von dem orgiastischen Tanz um das Stierbild(in ganz Israel und Juda noch kurz vor dem Exil üblich) bis zum Gott des Amos führt, der »die Feiertage verachtet« und »keinen Gefallen am Brandopfer hat« (V, 21, 22), und bis zu Deuterojesaia, der jeden Tempelbau für Gottes unwürdig hält, dem Opfer und Weih- rauch »Greuel« sind, und der die fast indischen Worte schreibt: »Wer einen Ochsen schlachtet, ist eben als der einen Mann erschlüge« (Jesaia LXVI, 1—3). Fortan war jedoch alle Entwickelung abgebrochen. Und was ich tausend Mal wiederholen muss, denn Niemand sagt es und es ist doch das Einzige, was Not thut zu sagen, das Einzige, was auch die Stellung der Juden unter uns Kindern des neunzehnten Jahrhunderts begreiflich macht: diese sogenannte »Reform« Esra’s, welche in Wahr- heit die Begründung des Judentums bedeutet, diese Reform, welche aus dem Zusammentreffen der fünf von mir aufgezählten historischen Umstände die Möglichkeit ihres Daseins schöpfte, bedeutet nicht eine Stufe in der religiösen Entwickelung, sondern ist eine heftige Re- aktion gegen jegliche Entwickelung; sie lässt den Baum aufrecht, schneidet aber unterirdisch alle Wurzeln ab; nun mag er stehen und verdorren, ringsum von den sauber zugehauenen 13 600 Pfählen des Gesetzes unterstützt, auf dass er nicht umfalle. Wenn also selbst ein so bedeutender Gelehrter wie Delitzsch schreibt: »Die Thora spiegelt einen jahrtausendlangen Prozess der Fortbewegung des mosaischen Gesetzes in Bewusstsein und Praxis Israel’s«, so müssen wir dagegen einwenden, dass die Thora im Gegenteil alles thut, was sie nur irgend kann, um den Entwickelungsprozess der bis zu ihr stattgefunden hatte, zu maskieren; dass sie vor keiner Unwahrheit zurückscheut, um das Gesetz als ein absolut unbewegliches, von jeher da gewesenes hin- zustellen, nicht einmal vor solchen handgreiflichen Absurditäten wie die Mähre von der Stiftshütte und ihrer Einrichtung; und wir müssen behaupten, dass die Thora nicht allein gegen den angeblichen »Götzen- dienst« (aus dem der ganze jüdische Kultus hervorgegangen war) ge- richtet ist, sondern eben so sehr gegen den freien Geist echter Religion, der sich in den Propheten zu regen begonnen hatte. Kein einziger jener grossen Männer, weder Elias, noch Amos, noch Hosea, noch Micha, noch Jesaia, noch Jeremia, noch Deuterojesaia hätte sein Siegel unter jenes Dokument des neuen Bundes gesetzt — er hätte ja erst seine eigenen Worte herunterschlucken müssen. Propheten. Einen Augenblick muss ich mich bei den soeben genannten Pro- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0459" n="436"/><fw place="top" type="header">Die Erben.</fw><lb/> blicken wie die, welche von dem orgiastischen Tanz um das Stierbild<lb/> (in ganz Israel und Juda noch kurz vor dem Exil üblich) bis zum<lb/> Gott des Amos führt, der »die Feiertage verachtet« und »keinen<lb/> Gefallen am Brandopfer hat« (V, 21, 22), und bis zu Deuterojesaia,<lb/> der jeden Tempelbau für Gottes unwürdig hält, dem Opfer und Weih-<lb/> rauch »Greuel« sind, und der die fast indischen Worte schreibt: »Wer<lb/> einen Ochsen schlachtet, ist eben als der einen Mann erschlüge« (<hi rendition="#i">Jesaia</hi><lb/> LXVI, 1—3). Fortan war jedoch alle Entwickelung abgebrochen. Und<lb/> was ich tausend Mal wiederholen muss, denn Niemand sagt es und<lb/> es ist doch das Einzige, was Not thut zu sagen, das Einzige, was auch<lb/> die Stellung der Juden unter uns Kindern des neunzehnten Jahrhunderts<lb/> begreiflich macht: diese sogenannte »Reform« Esra’s, welche in Wahr-<lb/> heit die Begründung des Judentums bedeutet, diese Reform, welche<lb/> aus dem Zusammentreffen der fünf von mir aufgezählten historischen<lb/> Umstände die Möglichkeit ihres Daseins schöpfte, bedeutet <hi rendition="#g">nicht</hi><lb/> eine Stufe in der religiösen Entwickelung, sondern ist eine heftige Re-<lb/> aktion gegen jegliche Entwickelung; sie lässt den Baum aufrecht,<lb/> schneidet aber unterirdisch alle Wurzeln ab; nun mag er stehen und<lb/> verdorren, ringsum von den sauber zugehauenen 13 600 Pfählen des<lb/> Gesetzes unterstützt, auf dass er nicht umfalle. Wenn also selbst ein<lb/> so bedeutender Gelehrter wie Delitzsch schreibt: »Die Thora spiegelt<lb/> einen jahrtausendlangen Prozess der Fortbewegung des mosaischen<lb/> Gesetzes in Bewusstsein und Praxis Israel’s«, so müssen wir dagegen<lb/> einwenden, dass die Thora im Gegenteil alles thut, was sie nur irgend<lb/> kann, um den Entwickelungsprozess der bis zu ihr stattgefunden hatte,<lb/> zu maskieren; dass sie vor keiner Unwahrheit zurückscheut, um das<lb/> Gesetz als ein absolut unbewegliches, von jeher da gewesenes hin-<lb/> zustellen, nicht einmal vor solchen handgreiflichen Absurditäten wie<lb/> die Mähre von der Stiftshütte und ihrer Einrichtung; und wir müssen<lb/> behaupten, dass die Thora nicht allein gegen den angeblichen »Götzen-<lb/> dienst« (aus dem der ganze jüdische Kultus hervorgegangen war) ge-<lb/> richtet ist, sondern eben so sehr gegen den freien Geist echter Religion,<lb/> der sich in den Propheten zu regen begonnen hatte. Kein einziger<lb/> jener grossen Männer, weder Elias, noch Amos, noch Hosea, noch<lb/> Micha, noch Jesaia, noch Jeremia, noch Deuterojesaia hätte sein Siegel<lb/> unter jenes Dokument des neuen Bundes gesetzt — er hätte ja erst<lb/> seine eigenen Worte herunterschlucken müssen.</p><lb/> <note place="left">Die<lb/> Propheten.</note> <p>Einen Augenblick muss ich mich bei den soeben genannten Pro-<lb/> pheten aufhalten. Denn gerade aus dem Kontrast zwischen dem,<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [436/0459]
Die Erben.
blicken wie die, welche von dem orgiastischen Tanz um das Stierbild
(in ganz Israel und Juda noch kurz vor dem Exil üblich) bis zum
Gott des Amos führt, der »die Feiertage verachtet« und »keinen
Gefallen am Brandopfer hat« (V, 21, 22), und bis zu Deuterojesaia,
der jeden Tempelbau für Gottes unwürdig hält, dem Opfer und Weih-
rauch »Greuel« sind, und der die fast indischen Worte schreibt: »Wer
einen Ochsen schlachtet, ist eben als der einen Mann erschlüge« (Jesaia
LXVI, 1—3). Fortan war jedoch alle Entwickelung abgebrochen. Und
was ich tausend Mal wiederholen muss, denn Niemand sagt es und
es ist doch das Einzige, was Not thut zu sagen, das Einzige, was auch
die Stellung der Juden unter uns Kindern des neunzehnten Jahrhunderts
begreiflich macht: diese sogenannte »Reform« Esra’s, welche in Wahr-
heit die Begründung des Judentums bedeutet, diese Reform, welche
aus dem Zusammentreffen der fünf von mir aufgezählten historischen
Umstände die Möglichkeit ihres Daseins schöpfte, bedeutet nicht
eine Stufe in der religiösen Entwickelung, sondern ist eine heftige Re-
aktion gegen jegliche Entwickelung; sie lässt den Baum aufrecht,
schneidet aber unterirdisch alle Wurzeln ab; nun mag er stehen und
verdorren, ringsum von den sauber zugehauenen 13 600 Pfählen des
Gesetzes unterstützt, auf dass er nicht umfalle. Wenn also selbst ein
so bedeutender Gelehrter wie Delitzsch schreibt: »Die Thora spiegelt
einen jahrtausendlangen Prozess der Fortbewegung des mosaischen
Gesetzes in Bewusstsein und Praxis Israel’s«, so müssen wir dagegen
einwenden, dass die Thora im Gegenteil alles thut, was sie nur irgend
kann, um den Entwickelungsprozess der bis zu ihr stattgefunden hatte,
zu maskieren; dass sie vor keiner Unwahrheit zurückscheut, um das
Gesetz als ein absolut unbewegliches, von jeher da gewesenes hin-
zustellen, nicht einmal vor solchen handgreiflichen Absurditäten wie
die Mähre von der Stiftshütte und ihrer Einrichtung; und wir müssen
behaupten, dass die Thora nicht allein gegen den angeblichen »Götzen-
dienst« (aus dem der ganze jüdische Kultus hervorgegangen war) ge-
richtet ist, sondern eben so sehr gegen den freien Geist echter Religion,
der sich in den Propheten zu regen begonnen hatte. Kein einziger
jener grossen Männer, weder Elias, noch Amos, noch Hosea, noch
Micha, noch Jesaia, noch Jeremia, noch Deuterojesaia hätte sein Siegel
unter jenes Dokument des neuen Bundes gesetzt — er hätte ja erst
seine eigenen Worte herunterschlucken müssen.
Einen Augenblick muss ich mich bei den soeben genannten Pro-
pheten aufhalten. Denn gerade aus dem Kontrast zwischen dem,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |