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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
nach durch Auswahlen aus der zum Teil sehr alten Spruchlitteratur
und durch ebenfalls stark bearbeitete Sammlungen der prophetischen
Bücher, bereichert um möglichst viele vaticinia ex eventibus, doch so
verständnislos redigiert, dass es heute nur mit unsäglicher Mühe ge-
lingt, die Absicht der Propheten herauszuschälen; noch später kamen
etliche Romane hinzu, wie Esther, Hiob, Daniel, auch die Psalmen u. s. w.
Noch lange Zeit nach Esra wirkte (nach jüdischer Tradition) ein
Kollegium von 120 Schriftgelehrten, die "grosse Synagoge", an der
Vervollständigung und Redaktion des Kanons; die beiden Bücher der
Chronica z. B. sind erst zwei Jahrhunderte später entstanden, "nach
dem Untergange des persischen Reiches, schon mitten aus dem Judaismus
heraus".1) Auf diese Religion Hesekiel's werde ich gleich zurückzu-
kommen haben; doch will ich vorher den fünften und letzten histori-
schen Umstand besprechen, ohne welchen sie trotz alles Vorherge-
gangenen nie dauernd hätte Fuss fassen können.

5. Nach dem babylonischen Exil bildeten die Juden nie mehr eine
unabhängige Nation. Welchen tiefeingreifenden Einfluss diese Thatsache
auf den Charakter des Volkes ausüben musste, hat Herder mit Recht
hervorgehoben: "Das jüdische Volk verdarb in der Erziehung, weil es
nie zur Reife einer politischen Kultur auf eigenem Boden, mithin auch
nicht zum wahren Gefühl der Ehre und Freiheit gelangte".2) Man
darf nicht behaupten, den Juden hätte von Hause aus, gewissermassen
als eine organische Lücke, das Gefühl für Ehre und Freiheit gefehlt;
auch ihr Schicksal hätte vielleicht nicht genügt, eine so weitgehende
Atrophie dieser kostbarsten Güter herbeizuführen, wenn nicht jetzt jener
Glaube hinzugekommen wäre, der dem Individuum jegliche Freiheit
nahm und auch das "wahre Gefühl der Ehre" dadurch ausrottete,
dass er anderen, höheren Völkern die Ehre absprach. Doch gerade
diesen Glauben hätte sich das Volk aus dem Stamme Juda niemals auf-
zwingen lassen, wenn nicht die politische Ohnmacht es als kleinen ge-
duldeten Vasallenstaat an Händen und Füssen gebunden seinen Religions-

1) Wellhausen: Prolegomena, S. 170. Eine gemeinverständliche Darstellung
von der Entstehungsgeschichte des Alten Testaments, etwa nach Art von Well-
hausen's Israelitische und jüdische Geschichte, ist mir nicht bekannt. Das grund-
legende Werk von Eduard Reuss: Gesch. der heil. Schriften alten Testaments ist für
Gelehrte gedacht und geschrieben und Zittel: Die Entstehung der Bibel in Reclam's
Universal-Bibliothek entspricht dem Titel keineswegs und kann darum auch be-
scheidenen Ansprüchen nicht genügen, so viel des Interessanten das Büchlein
sonst auch enthält.
2) Ideen zur Geschichte der Menschheit, T. III, Buch 12, Abschn. 3.

Die Erben.
nach durch Auswahlen aus der zum Teil sehr alten Spruchlitteratur
und durch ebenfalls stark bearbeitete Sammlungen der prophetischen
Bücher, bereichert um möglichst viele vaticinia ex eventibus, doch so
verständnislos redigiert, dass es heute nur mit unsäglicher Mühe ge-
lingt, die Absicht der Propheten herauszuschälen; noch später kamen
etliche Romane hinzu, wie Esther, Hiob, Daniel, auch die Psalmen u. s. w.
Noch lange Zeit nach Esra wirkte (nach jüdischer Tradition) ein
Kollegium von 120 Schriftgelehrten, die »grosse Synagoge«, an der
Vervollständigung und Redaktion des Kanons; die beiden Bücher der
Chronica z. B. sind erst zwei Jahrhunderte später entstanden, »nach
dem Untergange des persischen Reiches, schon mitten aus dem Judaismus
heraus«.1) Auf diese Religion Hesekiel’s werde ich gleich zurückzu-
kommen haben; doch will ich vorher den fünften und letzten histori-
schen Umstand besprechen, ohne welchen sie trotz alles Vorherge-
gangenen nie dauernd hätte Fuss fassen können.

5. Nach dem babylonischen Exil bildeten die Juden nie mehr eine
unabhängige Nation. Welchen tiefeingreifenden Einfluss diese Thatsache
auf den Charakter des Volkes ausüben musste, hat Herder mit Recht
hervorgehoben: »Das jüdische Volk verdarb in der Erziehung, weil es
nie zur Reife einer politischen Kultur auf eigenem Boden, mithin auch
nicht zum wahren Gefühl der Ehre und Freiheit gelangte«.2) Man
darf nicht behaupten, den Juden hätte von Hause aus, gewissermassen
als eine organische Lücke, das Gefühl für Ehre und Freiheit gefehlt;
auch ihr Schicksal hätte vielleicht nicht genügt, eine so weitgehende
Atrophie dieser kostbarsten Güter herbeizuführen, wenn nicht jetzt jener
Glaube hinzugekommen wäre, der dem Individuum jegliche Freiheit
nahm und auch das »wahre Gefühl der Ehre« dadurch ausrottete,
dass er anderen, höheren Völkern die Ehre absprach. Doch gerade
diesen Glauben hätte sich das Volk aus dem Stamme Juda niemals auf-
zwingen lassen, wenn nicht die politische Ohnmacht es als kleinen ge-
duldeten Vasallenstaat an Händen und Füssen gebunden seinen Religions-

1) Wellhausen: Prolegomena, S. 170. Eine gemeinverständliche Darstellung
von der Entstehungsgeschichte des Alten Testaments, etwa nach Art von Well-
hausen’s Israelitische und jüdische Geschichte, ist mir nicht bekannt. Das grund-
legende Werk von Eduard Reuss: Gesch. der heil. Schriften alten Testaments ist für
Gelehrte gedacht und geschrieben und Zittel: Die Entstehung der Bibel in Reclam’s
Universal-Bibliothek entspricht dem Titel keineswegs und kann darum auch be-
scheidenen Ansprüchen nicht genügen, so viel des Interessanten das Büchlein
sonst auch enthält.
2) Ideen zur Geschichte der Menschheit, T. III, Buch 12, Abschn. 3.
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[432/0455] Die Erben. nach durch Auswahlen aus der zum Teil sehr alten Spruchlitteratur und durch ebenfalls stark bearbeitete Sammlungen der prophetischen Bücher, bereichert um möglichst viele vaticinia ex eventibus, doch so verständnislos redigiert, dass es heute nur mit unsäglicher Mühe ge- lingt, die Absicht der Propheten herauszuschälen; noch später kamen etliche Romane hinzu, wie Esther, Hiob, Daniel, auch die Psalmen u. s. w. Noch lange Zeit nach Esra wirkte (nach jüdischer Tradition) ein Kollegium von 120 Schriftgelehrten, die »grosse Synagoge«, an der Vervollständigung und Redaktion des Kanons; die beiden Bücher der Chronica z. B. sind erst zwei Jahrhunderte später entstanden, »nach dem Untergange des persischen Reiches, schon mitten aus dem Judaismus heraus«. 1) Auf diese Religion Hesekiel’s werde ich gleich zurückzu- kommen haben; doch will ich vorher den fünften und letzten histori- schen Umstand besprechen, ohne welchen sie trotz alles Vorherge- gangenen nie dauernd hätte Fuss fassen können. 5. Nach dem babylonischen Exil bildeten die Juden nie mehr eine unabhängige Nation. Welchen tiefeingreifenden Einfluss diese Thatsache auf den Charakter des Volkes ausüben musste, hat Herder mit Recht hervorgehoben: »Das jüdische Volk verdarb in der Erziehung, weil es nie zur Reife einer politischen Kultur auf eigenem Boden, mithin auch nicht zum wahren Gefühl der Ehre und Freiheit gelangte«. 2) Man darf nicht behaupten, den Juden hätte von Hause aus, gewissermassen als eine organische Lücke, das Gefühl für Ehre und Freiheit gefehlt; auch ihr Schicksal hätte vielleicht nicht genügt, eine so weitgehende Atrophie dieser kostbarsten Güter herbeizuführen, wenn nicht jetzt jener Glaube hinzugekommen wäre, der dem Individuum jegliche Freiheit nahm und auch das »wahre Gefühl der Ehre« dadurch ausrottete, dass er anderen, höheren Völkern die Ehre absprach. Doch gerade diesen Glauben hätte sich das Volk aus dem Stamme Juda niemals auf- zwingen lassen, wenn nicht die politische Ohnmacht es als kleinen ge- duldeten Vasallenstaat an Händen und Füssen gebunden seinen Religions- 1) Wellhausen: Prolegomena, S. 170. Eine gemeinverständliche Darstellung von der Entstehungsgeschichte des Alten Testaments, etwa nach Art von Well- hausen’s Israelitische und jüdische Geschichte, ist mir nicht bekannt. Das grund- legende Werk von Eduard Reuss: Gesch. der heil. Schriften alten Testaments ist für Gelehrte gedacht und geschrieben und Zittel: Die Entstehung der Bibel in Reclam’s Universal-Bibliothek entspricht dem Titel keineswegs und kann darum auch be- scheidenen Ansprüchen nicht genügen, so viel des Interessanten das Büchlein sonst auch enthält. 2) Ideen zur Geschichte der Menschheit, T. III, Buch 12, Abschn. 3.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/455>, abgerufen am 10.09.2024.