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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
ja schon vor dem Exil mit dem Deuteronomium gemacht worden;
doch war das nur ein schüchterner Versuch gewesen und zwar dem
damals noch lebendigen Volksbewusstsein gegenüber kein sehr erfolg-
reicher. Jetzt war die Lage eine ganz andere. Erstens hatte das Exil,
wie ich schon sagte, den historischen Faden durchschnitten, sodann
bestanden die heimgekehrten Exulanten der überwiegenden Mehrzahl
nach aus zwei Menschenklassen: einerseits aus den ärmsten, un-
wissendsten, abhängigsten des Volkes, andererseits aus Priestern und
Leviten.1) Die reicheren, weltlich gesinnten Juden hatten es vor-
gezogen, in der Fremde zu bleiben, sie fühlten sich dort wohler als
im eigenen Gemeinwesen, doch blieben sie (wenigstens zum grossen
Teil) Juden, teils ohne Zweifel, weil dieser Glaube ihnen entsprach,
teils wohl auch wegen der Privilegien, die sie sich überall zu sichern
wussten, zu denen in erster Reihe die Befreiung vom Militärdienst
gehörte.2) Man begreift, wie die Priesterschaft nunmehr diese beiden

1) Vergl. Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, S. 159. Derselbe
Autor schreibt in seinen Prolegomena, S. 28: "Aus dem Exil kehrte nicht die
Nation zurück, sondern eine religiöse Sekte".
2) Geschichtsphilosophisch würde man wohl diese eigentümliche Vorliebe
der Juden für den abhängigen, gewissermassen parasitären Zustand aus dem lang
andauernden Abhängigkeitsverhältnis zu Israel erklären. Es ist übrigens höchst
bemerkenswert, dass die Juden nicht erst auf das Exil (noch weniger auf die sog.
Zerstreuung) warteten, um ihre Vorliebe für dieses Leben zu bethätigen. Man hat
in einer Reihe von Städten an den Ufern des Tigris und des Euphrat jüdische
Siegel aus älteren Epochen gefunden, und schon zur Zeit Sennacherib's, also
hundert Jahre vor der ersten Zerstörung Jerusalems, war das grösste Bankhaus
Babylons ein jüdisches; diese Firma "Egibi Brüder" soll eine ähnliche Stellung
im Orient eingenommen haben wie heute in Europa das Haus Rothschild. (Vergl.
Sayce: Assyria, its princes, priests and people, p. 138.) -- Man lasse uns doch endlich
einmal in Ruhe mit dem Ammenmärchen, die Juden seien "von Natur" Ackerbauer
und nur im Laufe des Mittelalters, weil jede andere Beschäftigung ihnen ab-
geschnitten war, a leur coeur defendant Geldverleiher geworden; man lese doch die
Propheten etwas fleissiger, die immer über den Geldwucher klagen, der den Reichen
als Mittel diene, die Bauern zu Grunde zu richten; man rufe sich die berühmte
Talmudstelle ins Gedächtnis: "Wer hundert Gulden im Handel hat, kann alle Tage
Fleisch essen und Wein trinken; wer hundert Gulden im Ackerwerk liegen hat,
muss Kraut und Kohl essen, muss dazu graben, viel wachen und sich dazu Feinde
machen. -- -- -- Wir aber sind erschaffen, dass wir Gott dienen sollen; ist es
nun nicht billig, dass wir uns ohne Schmerzen nähren?" (Herder, dem
ich das Citat entnehme, fügt hinzu: "Immerhin ohne Schmerzen! nur nicht durch
Betrug und Überlistung". Adrastea V, 7.) Man lese auch Nehemia, Kap. 5, und
sehe, wie, als die Juden alles vernachlässigten, um den zerstörten Tempel wieder auf-
zuhauen, die Ratsherren und die Priester den feierlich-ernsten Augenblick benutzten,

Die Erben.
ja schon vor dem Exil mit dem Deuteronomium gemacht worden;
doch war das nur ein schüchterner Versuch gewesen und zwar dem
damals noch lebendigen Volksbewusstsein gegenüber kein sehr erfolg-
reicher. Jetzt war die Lage eine ganz andere. Erstens hatte das Exil,
wie ich schon sagte, den historischen Faden durchschnitten, sodann
bestanden die heimgekehrten Exulanten der überwiegenden Mehrzahl
nach aus zwei Menschenklassen: einerseits aus den ärmsten, un-
wissendsten, abhängigsten des Volkes, andererseits aus Priestern und
Leviten.1) Die reicheren, weltlich gesinnten Juden hatten es vor-
gezogen, in der Fremde zu bleiben, sie fühlten sich dort wohler als
im eigenen Gemeinwesen, doch blieben sie (wenigstens zum grossen
Teil) Juden, teils ohne Zweifel, weil dieser Glaube ihnen entsprach,
teils wohl auch wegen der Privilegien, die sie sich überall zu sichern
wussten, zu denen in erster Reihe die Befreiung vom Militärdienst
gehörte.2) Man begreift, wie die Priesterschaft nunmehr diese beiden

1) Vergl. Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, S. 159. Derselbe
Autor schreibt in seinen Prolegomena, S. 28: »Aus dem Exil kehrte nicht die
Nation zurück, sondern eine religiöse Sekte«.
2) Geschichtsphilosophisch würde man wohl diese eigentümliche Vorliebe
der Juden für den abhängigen, gewissermassen parasitären Zustand aus dem lang
andauernden Abhängigkeitsverhältnis zu Israel erklären. Es ist übrigens höchst
bemerkenswert, dass die Juden nicht erst auf das Exil (noch weniger auf die sog.
Zerstreuung) warteten, um ihre Vorliebe für dieses Leben zu bethätigen. Man hat
in einer Reihe von Städten an den Ufern des Tigris und des Euphrat jüdische
Siegel aus älteren Epochen gefunden, und schon zur Zeit Sennacherib’s, also
hundert Jahre vor der ersten Zerstörung Jerusalems, war das grösste Bankhaus
Babylons ein jüdisches; diese Firma »Egibi Brüder« soll eine ähnliche Stellung
im Orient eingenommen haben wie heute in Europa das Haus Rothschild. (Vergl.
Sayce: Assyria, its princes, priests and people, p. 138.) — Man lasse uns doch endlich
einmal in Ruhe mit dem Ammenmärchen, die Juden seien »von Natur« Ackerbauer
und nur im Laufe des Mittelalters, weil jede andere Beschäftigung ihnen ab-
geschnitten war, à leur coeur défendant Geldverleiher geworden; man lese doch die
Propheten etwas fleissiger, die immer über den Geldwucher klagen, der den Reichen
als Mittel diene, die Bauern zu Grunde zu richten; man rufe sich die berühmte
Talmudstelle ins Gedächtnis: »Wer hundert Gulden im Handel hat, kann alle Tage
Fleisch essen und Wein trinken; wer hundert Gulden im Ackerwerk liegen hat,
muss Kraut und Kohl essen, muss dazu graben, viel wachen und sich dazu Feinde
machen. — — — Wir aber sind erschaffen, dass wir Gott dienen sollen; ist es
nun nicht billig, dass wir uns ohne Schmerzen nähren?« (Herder, dem
ich das Citat entnehme, fügt hinzu: »Immerhin ohne Schmerzen! nur nicht durch
Betrug und Überlistung«. Adrastea V, 7.) Man lese auch Nehemia, Kap. 5, und
sehe, wie, als die Juden alles vernachlässigten, um den zerstörten Tempel wieder auf-
zuhauen, die Ratsherren und die Priester den feierlich-ernsten Augenblick benutzten,
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[430/0453] Die Erben. ja schon vor dem Exil mit dem Deuteronomium gemacht worden; doch war das nur ein schüchterner Versuch gewesen und zwar dem damals noch lebendigen Volksbewusstsein gegenüber kein sehr erfolg- reicher. Jetzt war die Lage eine ganz andere. Erstens hatte das Exil, wie ich schon sagte, den historischen Faden durchschnitten, sodann bestanden die heimgekehrten Exulanten der überwiegenden Mehrzahl nach aus zwei Menschenklassen: einerseits aus den ärmsten, un- wissendsten, abhängigsten des Volkes, andererseits aus Priestern und Leviten. 1) Die reicheren, weltlich gesinnten Juden hatten es vor- gezogen, in der Fremde zu bleiben, sie fühlten sich dort wohler als im eigenen Gemeinwesen, doch blieben sie (wenigstens zum grossen Teil) Juden, teils ohne Zweifel, weil dieser Glaube ihnen entsprach, teils wohl auch wegen der Privilegien, die sie sich überall zu sichern wussten, zu denen in erster Reihe die Befreiung vom Militärdienst gehörte. 2) Man begreift, wie die Priesterschaft nunmehr diese beiden 1) Vergl. Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, S. 159. Derselbe Autor schreibt in seinen Prolegomena, S. 28: »Aus dem Exil kehrte nicht die Nation zurück, sondern eine religiöse Sekte«. 2) Geschichtsphilosophisch würde man wohl diese eigentümliche Vorliebe der Juden für den abhängigen, gewissermassen parasitären Zustand aus dem lang andauernden Abhängigkeitsverhältnis zu Israel erklären. Es ist übrigens höchst bemerkenswert, dass die Juden nicht erst auf das Exil (noch weniger auf die sog. Zerstreuung) warteten, um ihre Vorliebe für dieses Leben zu bethätigen. Man hat in einer Reihe von Städten an den Ufern des Tigris und des Euphrat jüdische Siegel aus älteren Epochen gefunden, und schon zur Zeit Sennacherib’s, also hundert Jahre vor der ersten Zerstörung Jerusalems, war das grösste Bankhaus Babylons ein jüdisches; diese Firma »Egibi Brüder« soll eine ähnliche Stellung im Orient eingenommen haben wie heute in Europa das Haus Rothschild. (Vergl. Sayce: Assyria, its princes, priests and people, p. 138.) — Man lasse uns doch endlich einmal in Ruhe mit dem Ammenmärchen, die Juden seien »von Natur« Ackerbauer und nur im Laufe des Mittelalters, weil jede andere Beschäftigung ihnen ab- geschnitten war, à leur coeur défendant Geldverleiher geworden; man lese doch die Propheten etwas fleissiger, die immer über den Geldwucher klagen, der den Reichen als Mittel diene, die Bauern zu Grunde zu richten; man rufe sich die berühmte Talmudstelle ins Gedächtnis: »Wer hundert Gulden im Handel hat, kann alle Tage Fleisch essen und Wein trinken; wer hundert Gulden im Ackerwerk liegen hat, muss Kraut und Kohl essen, muss dazu graben, viel wachen und sich dazu Feinde machen. — — — Wir aber sind erschaffen, dass wir Gott dienen sollen; ist es nun nicht billig, dass wir uns ohne Schmerzen nähren?« (Herder, dem ich das Citat entnehme, fügt hinzu: »Immerhin ohne Schmerzen! nur nicht durch Betrug und Überlistung«. Adrastea V, 7.) Man lese auch Nehemia, Kap. 5, und sehe, wie, als die Juden alles vernachlässigten, um den zerstörten Tempel wieder auf- zuhauen, die Ratsherren und die Priester den feierlich-ernsten Augenblick benutzten,

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/453>, abgerufen am 10.09.2024.