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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
Judentum nie zur Blüte gekommen. Die Könige Hiskia, Josia und
Zedekia hatten die Altäre umwerfen und die heiligen Bäume abhauen
können, doch das Volk liess sich seine Heiligtümer nicht rauben; jetzt
aber war es mit einem Mal aus aller Tradition losgerissen; der sechzig-
jährige Aufenthalt im babylonischen Reiche schnitt sozusagen den Faden
der Geschichte entzwei; Keiner, der als urteilsfähiger Mann das Land
seiner Väter verlassen hatte, kehrte wieder zurück. Wenn ein einzelner
Mann sein Vaterland auf fünfzig Jahre verlässt, ja, nur auf zwanzig, kehrt
er heim zu Verwandten und Freunden, ein Fremder unter Fremden; er
vermag es nicht, sich in das spezielle organische Gesetz des individuellen
Wachstums dieses besonderen Volkes wieder hineinzuleben, namentlich
nicht, wenn er in früher Jugend das Heimatland verliess. Hier verliess
eine ganze Nation die historische Heimat; die später Zurückkehrenden
waren fast ausnahmslos in der Fremde geboren und gross geworden, viel-
leicht lebte nicht Einer, der mit Bewusstsein sich Judäas entsann.
Und inzwischen, in Babylon, während die segensreiche Verbindung
mit der Vergangenheit (das Verhältnis des Kindes zur Mutter) abge-
brochen war, brüteten die verbitterten Zeloten unter den Verbannten
über ihr Schicksal und fassten Gedanken, die sie daheim nicht hätten
denken können. Im Exil wurde das spezifische Judentum gegründet,
und zwar von Hesekiel, einem Priester aus der hohenpriesterlichen
Familie; den Stempel des Exils hat das Judentum daher von Anfang
an getragen; sein Glaube ist nicht der Glaube eines gesunden, freien,
um seine Existenz im ehrlichen Wettbewerb kämpfenden Volkes,
sondern er atmet Ohnmacht und Rachsucht, und sucht über das
Elend des Augenblickes durch Vorspiegelung einer unmöglichen Zu-
kunft hinwegzutäuschen. Hesekiel's Buch ist das furchtbarste der
Bibel; durch Anwendung der äussersten Mittel -- der entsetzlichsten
Drohungen und der frevelhaftesten Verheissungen -- wollte dieser
gedankenarme, abstrakt formalistische, doch edle, patriotische Geist1)
den stark erschütterten Glauben seiner Brüder und mit ihm die Nation
retten. Bis zu seiner Zeit war die israelitische Religion, gleichwie in

1) Besonders vortrefflich charakterisiert im zwölften Kapitel von Duhm's:
Theologie der Propheten. Eduard Meyer: Die Entstehung des Judentums, S. 219, giebt
folgende Umrisszeichnung: "Hesekiel war offenbar eine ganz ehrliche Natur, aber
ein bornierter, überdies in den engen Standesanschauungen des Priesters aufge-
wachsener Mensch, nicht in einem Atem zu nennen neben den gewaltigen Ge-
stalten, denen er sich durch Umhängung eines sehr fadenscheinigen Propheten-
mantels an die Seite zu stellen unterfing."

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
Judentum nie zur Blüte gekommen. Die Könige Hiskia, Josia und
Zedekia hatten die Altäre umwerfen und die heiligen Bäume abhauen
können, doch das Volk liess sich seine Heiligtümer nicht rauben; jetzt
aber war es mit einem Mal aus aller Tradition losgerissen; der sechzig-
jährige Aufenthalt im babylonischen Reiche schnitt sozusagen den Faden
der Geschichte entzwei; Keiner, der als urteilsfähiger Mann das Land
seiner Väter verlassen hatte, kehrte wieder zurück. Wenn ein einzelner
Mann sein Vaterland auf fünfzig Jahre verlässt, ja, nur auf zwanzig, kehrt
er heim zu Verwandten und Freunden, ein Fremder unter Fremden; er
vermag es nicht, sich in das spezielle organische Gesetz des individuellen
Wachstums dieses besonderen Volkes wieder hineinzuleben, namentlich
nicht, wenn er in früher Jugend das Heimatland verliess. Hier verliess
eine ganze Nation die historische Heimat; die später Zurückkehrenden
waren fast ausnahmslos in der Fremde geboren und gross geworden, viel-
leicht lebte nicht Einer, der mit Bewusstsein sich Judäas entsann.
Und inzwischen, in Babylon, während die segensreiche Verbindung
mit der Vergangenheit (das Verhältnis des Kindes zur Mutter) abge-
brochen war, brüteten die verbitterten Zeloten unter den Verbannten
über ihr Schicksal und fassten Gedanken, die sie daheim nicht hätten
denken können. Im Exil wurde das spezifische Judentum gegründet,
und zwar von Hesekiel, einem Priester aus der hohenpriesterlichen
Familie; den Stempel des Exils hat das Judentum daher von Anfang
an getragen; sein Glaube ist nicht der Glaube eines gesunden, freien,
um seine Existenz im ehrlichen Wettbewerb kämpfenden Volkes,
sondern er atmet Ohnmacht und Rachsucht, und sucht über das
Elend des Augenblickes durch Vorspiegelung einer unmöglichen Zu-
kunft hinwegzutäuschen. Hesekiel’s Buch ist das furchtbarste der
Bibel; durch Anwendung der äussersten Mittel — der entsetzlichsten
Drohungen und der frevelhaftesten Verheissungen — wollte dieser
gedankenarme, abstrakt formalistische, doch edle, patriotische Geist1)
den stark erschütterten Glauben seiner Brüder und mit ihm die Nation
retten. Bis zu seiner Zeit war die israelitische Religion, gleichwie in

1) Besonders vortrefflich charakterisiert im zwölften Kapitel von Duhm’s:
Theologie der Propheten. Eduard Meyer: Die Entstehung des Judentums, S. 219, giebt
folgende Umrisszeichnung: »Hesekiel war offenbar eine ganz ehrliche Natur, aber
ein bornierter, überdies in den engen Standesanschauungen des Priesters aufge-
wachsener Mensch, nicht in einem Atem zu nennen neben den gewaltigen Ge-
stalten, denen er sich durch Umhängung eines sehr fadenscheinigen Propheten-
mantels an die Seite zu stellen unterfing.«
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[427/0450] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. Judentum nie zur Blüte gekommen. Die Könige Hiskia, Josia und Zedekia hatten die Altäre umwerfen und die heiligen Bäume abhauen können, doch das Volk liess sich seine Heiligtümer nicht rauben; jetzt aber war es mit einem Mal aus aller Tradition losgerissen; der sechzig- jährige Aufenthalt im babylonischen Reiche schnitt sozusagen den Faden der Geschichte entzwei; Keiner, der als urteilsfähiger Mann das Land seiner Väter verlassen hatte, kehrte wieder zurück. Wenn ein einzelner Mann sein Vaterland auf fünfzig Jahre verlässt, ja, nur auf zwanzig, kehrt er heim zu Verwandten und Freunden, ein Fremder unter Fremden; er vermag es nicht, sich in das spezielle organische Gesetz des individuellen Wachstums dieses besonderen Volkes wieder hineinzuleben, namentlich nicht, wenn er in früher Jugend das Heimatland verliess. Hier verliess eine ganze Nation die historische Heimat; die später Zurückkehrenden waren fast ausnahmslos in der Fremde geboren und gross geworden, viel- leicht lebte nicht Einer, der mit Bewusstsein sich Judäas entsann. Und inzwischen, in Babylon, während die segensreiche Verbindung mit der Vergangenheit (das Verhältnis des Kindes zur Mutter) abge- brochen war, brüteten die verbitterten Zeloten unter den Verbannten über ihr Schicksal und fassten Gedanken, die sie daheim nicht hätten denken können. Im Exil wurde das spezifische Judentum gegründet, und zwar von Hesekiel, einem Priester aus der hohenpriesterlichen Familie; den Stempel des Exils hat das Judentum daher von Anfang an getragen; sein Glaube ist nicht der Glaube eines gesunden, freien, um seine Existenz im ehrlichen Wettbewerb kämpfenden Volkes, sondern er atmet Ohnmacht und Rachsucht, und sucht über das Elend des Augenblickes durch Vorspiegelung einer unmöglichen Zu- kunft hinwegzutäuschen. Hesekiel’s Buch ist das furchtbarste der Bibel; durch Anwendung der äussersten Mittel — der entsetzlichsten Drohungen und der frevelhaftesten Verheissungen — wollte dieser gedankenarme, abstrakt formalistische, doch edle, patriotische Geist 1) den stark erschütterten Glauben seiner Brüder und mit ihm die Nation retten. Bis zu seiner Zeit war die israelitische Religion, gleichwie in 1) Besonders vortrefflich charakterisiert im zwölften Kapitel von Duhm’s: Theologie der Propheten. Eduard Meyer: Die Entstehung des Judentums, S. 219, giebt folgende Umrisszeichnung: »Hesekiel war offenbar eine ganz ehrliche Natur, aber ein bornierter, überdies in den engen Standesanschauungen des Priesters aufge- wachsener Mensch, nicht in einem Atem zu nennen neben den gewaltigen Ge- stalten, denen er sich durch Umhängung eines sehr fadenscheinigen Propheten- mantels an die Seite zu stellen unterfing.«

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/450>, abgerufen am 22.11.2024.