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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
konnte -- nämlich inmitten stündlicher Gefahr und nach der wunder-
baren Errettung Jerusalem's aus Sennacherib's Händen -- zeigt die
stets wiederkehrende Formel: "der Herr hat geboten, dass wir ihn
fürchten, auf dass es uns wohl gehe alle unsere Lebtage, wie es gehet
heutiges Tages". Furchtbare Strafen auf der einen, masslose Ver-
heissungen auf der anderen Seite, dazu die ewig wiederkehrende Auf-
zählung der Wunder, die Jahve zu Gunsten Israel's gethan hat: das sind
die Überzeugungsmittel des Buches Deuteronomium, der ersten selbst-
ständigen That der Juden auf religiösem Gebiete.1) Sehr erhaben ist
dieses religiöse Motiv nicht, das muss ich allen jüdischen und christ-
lichen Kommentatoren zum Trotz behaupten; jedoch, von einem
fanatischen Glauben erfasst, ist es ein unvergleichlich kräftiges. Der
Erstarkung dieses Glaubens gelten fortan alle Bemühungen, wiederum
von den Umständen merkwürdig begünstigt.

3. Man möchte meinen, die Zerstörung Jerusalems und das
Exil müssten das Vertrauen auf Jahve erschüttert haben, doch der
Vernichtungsschlag kam nicht auf einmal und die hinreissende Glaubens-
kraft eines Jeremia hatte hinreichend Zeit, sich auf neue Verhältnisse
zu stimmen. Schnell war inzwischen bei den Grossen des Reiches
die moralische Regeneration in ihr Gegenteil umgeschlagen; ohne
Furcht thaten sie Übles. Doch Jeremia sah die Zukunft anders: in
dem Babylonier erblickte dieser Prophet die Geissel Gottes, gesandt,
Juda für seine Sünden zu strafen; wie die Errettung aus der Liebe
Jahve's zu seinem auserwählten Volk hervorgegangen sei, ebenso sei
jetzt die Züchtigung Liebe; und so weissagte Jeremia im Gegensatz zu
Jesaia die Zerstörung Jerusalems und wurde dafür als Verräter, als ein
Söldling der Babylonier verfolgt. Wiederum behielt aber der Prophet
Recht, die klugen Weltmenschen Unrecht; denn diese Letzteren ver-
liessen sich diesmal auf Jahve; hatte man sie denn nicht seit einem
Jahrhundert gelehrt, Jerusalem sei uneinnehmbar? Und als die Zer-
störung nun kam, sagte man: seht, der Prophet hat wahr gesprochen,
das ist die Hand Jahve's. Die hohe Bedeutung des Exils für die Weiter-
entwickelung und Befestigung dieser Wahnvorstellung ist nun leicht ein-
zusehen. Ohne die Verbannung wäre das echte, so erstaunlich abstrakte

1) Das Kapitel XXVIII (allerdings postexilisch) enthält die Segnungen, "so
du nicht weichst von irgend einem Wort, das ich euch heute gebiete", und darauf
die Flüche, über hundert an der Zahl, alles Entsetzlichste enthaltend, was eine krank-
hafte Phantasie sich ausdenken kann, "denn Gott wird sich freuen, dass er euch
umbringe".

Die Erben.
konnte — nämlich inmitten stündlicher Gefahr und nach der wunder-
baren Errettung Jerusalem’s aus Sennacherib’s Händen — zeigt die
stets wiederkehrende Formel: »der Herr hat geboten, dass wir ihn
fürchten, auf dass es uns wohl gehe alle unsere Lebtage, wie es gehet
heutiges Tages«. Furchtbare Strafen auf der einen, masslose Ver-
heissungen auf der anderen Seite, dazu die ewig wiederkehrende Auf-
zählung der Wunder, die Jahve zu Gunsten Israel’s gethan hat: das sind
die Überzeugungsmittel des Buches Deuteronomium, der ersten selbst-
ständigen That der Juden auf religiösem Gebiete.1) Sehr erhaben ist
dieses religiöse Motiv nicht, das muss ich allen jüdischen und christ-
lichen Kommentatoren zum Trotz behaupten; jedoch, von einem
fanatischen Glauben erfasst, ist es ein unvergleichlich kräftiges. Der
Erstarkung dieses Glaubens gelten fortan alle Bemühungen, wiederum
von den Umständen merkwürdig begünstigt.

3. Man möchte meinen, die Zerstörung Jerusalems und das
Exil müssten das Vertrauen auf Jahve erschüttert haben, doch der
Vernichtungsschlag kam nicht auf einmal und die hinreissende Glaubens-
kraft eines Jeremia hatte hinreichend Zeit, sich auf neue Verhältnisse
zu stimmen. Schnell war inzwischen bei den Grossen des Reiches
die moralische Regeneration in ihr Gegenteil umgeschlagen; ohne
Furcht thaten sie Übles. Doch Jeremia sah die Zukunft anders: in
dem Babylonier erblickte dieser Prophet die Geissel Gottes, gesandt,
Juda für seine Sünden zu strafen; wie die Errettung aus der Liebe
Jahve’s zu seinem auserwählten Volk hervorgegangen sei, ebenso sei
jetzt die Züchtigung Liebe; und so weissagte Jeremia im Gegensatz zu
Jesaia die Zerstörung Jerusalems und wurde dafür als Verräter, als ein
Söldling der Babylonier verfolgt. Wiederum behielt aber der Prophet
Recht, die klugen Weltmenschen Unrecht; denn diese Letzteren ver-
liessen sich diesmal auf Jahve; hatte man sie denn nicht seit einem
Jahrhundert gelehrt, Jerusalem sei uneinnehmbar? Und als die Zer-
störung nun kam, sagte man: seht, der Prophet hat wahr gesprochen,
das ist die Hand Jahve’s. Die hohe Bedeutung des Exils für die Weiter-
entwickelung und Befestigung dieser Wahnvorstellung ist nun leicht ein-
zusehen. Ohne die Verbannung wäre das echte, so erstaunlich abstrakte

1) Das Kapitel XXVIII (allerdings postexilisch) enthält die Segnungen, »so
du nicht weichst von irgend einem Wort, das ich euch heute gebiete«, und darauf
die Flüche, über hundert an der Zahl, alles Entsetzlichste enthaltend, was eine krank-
hafte Phantasie sich ausdenken kann, »denn Gott wird sich freuen, dass er euch
umbringe«.
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[426/0449] Die Erben. konnte — nämlich inmitten stündlicher Gefahr und nach der wunder- baren Errettung Jerusalem’s aus Sennacherib’s Händen — zeigt die stets wiederkehrende Formel: »der Herr hat geboten, dass wir ihn fürchten, auf dass es uns wohl gehe alle unsere Lebtage, wie es gehet heutiges Tages«. Furchtbare Strafen auf der einen, masslose Ver- heissungen auf der anderen Seite, dazu die ewig wiederkehrende Auf- zählung der Wunder, die Jahve zu Gunsten Israel’s gethan hat: das sind die Überzeugungsmittel des Buches Deuteronomium, der ersten selbst- ständigen That der Juden auf religiösem Gebiete. 1) Sehr erhaben ist dieses religiöse Motiv nicht, das muss ich allen jüdischen und christ- lichen Kommentatoren zum Trotz behaupten; jedoch, von einem fanatischen Glauben erfasst, ist es ein unvergleichlich kräftiges. Der Erstarkung dieses Glaubens gelten fortan alle Bemühungen, wiederum von den Umständen merkwürdig begünstigt. 3. Man möchte meinen, die Zerstörung Jerusalems und das Exil müssten das Vertrauen auf Jahve erschüttert haben, doch der Vernichtungsschlag kam nicht auf einmal und die hinreissende Glaubens- kraft eines Jeremia hatte hinreichend Zeit, sich auf neue Verhältnisse zu stimmen. Schnell war inzwischen bei den Grossen des Reiches die moralische Regeneration in ihr Gegenteil umgeschlagen; ohne Furcht thaten sie Übles. Doch Jeremia sah die Zukunft anders: in dem Babylonier erblickte dieser Prophet die Geissel Gottes, gesandt, Juda für seine Sünden zu strafen; wie die Errettung aus der Liebe Jahve’s zu seinem auserwählten Volk hervorgegangen sei, ebenso sei jetzt die Züchtigung Liebe; und so weissagte Jeremia im Gegensatz zu Jesaia die Zerstörung Jerusalems und wurde dafür als Verräter, als ein Söldling der Babylonier verfolgt. Wiederum behielt aber der Prophet Recht, die klugen Weltmenschen Unrecht; denn diese Letzteren ver- liessen sich diesmal auf Jahve; hatte man sie denn nicht seit einem Jahrhundert gelehrt, Jerusalem sei uneinnehmbar? Und als die Zer- störung nun kam, sagte man: seht, der Prophet hat wahr gesprochen, das ist die Hand Jahve’s. Die hohe Bedeutung des Exils für die Weiter- entwickelung und Befestigung dieser Wahnvorstellung ist nun leicht ein- zusehen. Ohne die Verbannung wäre das echte, so erstaunlich abstrakte 1) Das Kapitel XXVIII (allerdings postexilisch) enthält die Segnungen, »so du nicht weichst von irgend einem Wort, das ich euch heute gebiete«, und darauf die Flüche, über hundert an der Zahl, alles Entsetzlichste enthaltend, was eine krank- hafte Phantasie sich ausdenken kann, »denn Gott wird sich freuen, dass er euch umbringe«.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/449>, abgerufen am 22.11.2024.