Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
den Patriarchen gegründeten, durch Theophanien geweihten Tempel um-
brachte, die übrigen zu untergeordneten Dienern des jerusalemitischen
Gotteshauses machte: jetzt gab es nur noch einen Gott, einen Altar, einen
Hohenpriester; die Welt war um den Begriff (wenn auch noch nicht
um das Wort) Kirche reicher, die Grundlage zur heutigen römi-
schen, mit ihrem unfehlbaren Oberhaupt, war gelegt. Um das zu
vollbringen, hatte man allerdings zu einer geschickten Fälschung greifen
müssen, das Muster vieler späteren. Im Jahre 622 wurde bei einer
Ausbesserung des Tempelgebäudes ein "Gesetzbuch" angeblich "ge-
funden";1) dass es erst damals geschrieben worden war, unterliegt
heute nicht dem mindesten Zweifel. Das Deuteronomium oder fünfte
Buch Mose ("eine ganz überflüssigste Ausbreitung der zehn Gebote",
urteilt Luther) gilt der Einführung eines Priesterregimentes, wie es in
Israel und Juda zu keiner Zeit bestanden hatte, und ausserdem der
gesetzlichen (zugleich, wie immer bei den Hebräern, historischen) Be-
gründung der einzigen Berechtigung Jerusalems -- ein Gedanke, der
so lange das nördliche Reich, Israel, bestand, niemals hätte gefasst
werden können, und der selbst dem so fanatisch patriotischen und
jerusalemitisch gesinnten Jesaia noch gänzlich fremd gewesen war.2)
Dies Alles nicht etwa aus schlechter, betrügerischer Absicht, sondern
um den Kultus des rettenden Gottes, Jahve, fortan reinzuhalten, und
zugleich als Beginn einer moralischen Regeneration. Hier taucht z. B.
zum ersten Mal, schüchtern und verklauselt, das Gebot auf, man solle
Gott den Herrn lieben; zugleich brachte dieses Buch die fanatisch-
dogmatische Versicherung, dass die Juden allein Gottes Volk seien, und
damit in Verbindung tritt das Verbot von Mischehen zum ersten Mal
auf, sowie auch das Gebot, alle "Heiden", dort wo Juden wohnen, "aus-
zurotten", und jeden Juden, Mann oder Weib, der nicht rechtgläubig
sei, zu steinigen (XVII, 5); zwei Zeugen sollten genügen, um das
Todesurteil zu sprechen: die Welt war um den Begriff der religiösen
Intoleranz
reicher. Wie neu dieser Gedankengang dem Volke war,
und unter welchen besonderen Umständen allein er Fuss fassen

1) II Könige XXII.
2) R. Smith: Prophets of Israel p. 438. Im Deuteronomium wird der Grund-
stein zum eigentlichen Judentum gelegt. Es bildet den Mittelpunkt des Alten
Testamentes in seiner jetzigen Gestalt: "von welchem aus vor- und rückwärts, mit
einiger Aussicht auf richtiges Verständnis des übrigen, geforscht werden kann und
muss", sagte schon vor vielen Jahren Reuss, in seiner grundlegenden Geschichte des
Alten Testaments,
§ 286.

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
den Patriarchen gegründeten, durch Theophanien geweihten Tempel um-
brachte, die übrigen zu untergeordneten Dienern des jerusalemitischen
Gotteshauses machte: jetzt gab es nur noch einen Gott, einen Altar, einen
Hohenpriester; die Welt war um den Begriff (wenn auch noch nicht
um das Wort) Kirche reicher, die Grundlage zur heutigen römi-
schen, mit ihrem unfehlbaren Oberhaupt, war gelegt. Um das zu
vollbringen, hatte man allerdings zu einer geschickten Fälschung greifen
müssen, das Muster vieler späteren. Im Jahre 622 wurde bei einer
Ausbesserung des Tempelgebäudes ein »Gesetzbuch« angeblich »ge-
funden«;1) dass es erst damals geschrieben worden war, unterliegt
heute nicht dem mindesten Zweifel. Das Deuteronomium oder fünfte
Buch Mose (»eine ganz überflüssigste Ausbreitung der zehn Gebote«,
urteilt Luther) gilt der Einführung eines Priesterregimentes, wie es in
Israel und Juda zu keiner Zeit bestanden hatte, und ausserdem der
gesetzlichen (zugleich, wie immer bei den Hebräern, historischen) Be-
gründung der einzigen Berechtigung Jerusalems — ein Gedanke, der
so lange das nördliche Reich, Israel, bestand, niemals hätte gefasst
werden können, und der selbst dem so fanatisch patriotischen und
jerusalemitisch gesinnten Jesaia noch gänzlich fremd gewesen war.2)
Dies Alles nicht etwa aus schlechter, betrügerischer Absicht, sondern
um den Kultus des rettenden Gottes, Jahve, fortan reinzuhalten, und
zugleich als Beginn einer moralischen Regeneration. Hier taucht z. B.
zum ersten Mal, schüchtern und verklauselt, das Gebot auf, man solle
Gott den Herrn lieben; zugleich brachte dieses Buch die fanatisch-
dogmatische Versicherung, dass die Juden allein Gottes Volk seien, und
damit in Verbindung tritt das Verbot von Mischehen zum ersten Mal
auf, sowie auch das Gebot, alle »Heiden«, dort wo Juden wohnen, »aus-
zurotten«, und jeden Juden, Mann oder Weib, der nicht rechtgläubig
sei, zu steinigen (XVII, 5); zwei Zeugen sollten genügen, um das
Todesurteil zu sprechen: die Welt war um den Begriff der religiösen
Intoleranz
reicher. Wie neu dieser Gedankengang dem Volke war,
und unter welchen besonderen Umständen allein er Fuss fassen

1) II Könige XXII.
2) R. Smith: Prophets of Israel p. 438. Im Deuteronomium wird der Grund-
stein zum eigentlichen Judentum gelegt. Es bildet den Mittelpunkt des Alten
Testamentes in seiner jetzigen Gestalt: »von welchem aus vor- und rückwärts, mit
einiger Aussicht auf richtiges Verständnis des übrigen, geforscht werden kann und
muss«, sagte schon vor vielen Jahren Reuss, in seiner grundlegenden Geschichte des
Alten Testaments,
§ 286.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0448" n="425"/><fw place="top" type="header">Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.</fw><lb/>
den Patriarchen gegründeten, durch Theophanien geweihten Tempel um-<lb/>
brachte, die übrigen zu untergeordneten Dienern des jerusalemitischen<lb/>
Gotteshauses machte: jetzt gab es nur noch einen Gott, einen Altar, einen<lb/>
Hohenpriester; die Welt war um den Begriff (wenn auch noch nicht<lb/>
um das Wort) <hi rendition="#g">Kirche</hi> reicher, die Grundlage zur heutigen römi-<lb/>
schen, mit ihrem unfehlbaren Oberhaupt, war gelegt. Um das zu<lb/>
vollbringen, hatte man allerdings zu einer geschickten Fälschung greifen<lb/>
müssen, das Muster vieler späteren. Im Jahre 622 wurde bei einer<lb/>
Ausbesserung des Tempelgebäudes ein »Gesetzbuch« angeblich »ge-<lb/>
funden«;<note place="foot" n="1)">II <hi rendition="#i">Könige</hi> XXII.</note> dass es erst damals geschrieben worden war, unterliegt<lb/>
heute nicht dem mindesten Zweifel. Das Deuteronomium oder fünfte<lb/>
Buch Mose (»eine ganz überflüssigste Ausbreitung der zehn Gebote«,<lb/>
urteilt Luther) gilt der Einführung eines Priesterregimentes, wie es in<lb/>
Israel und Juda zu keiner Zeit bestanden hatte, und ausserdem der<lb/>
gesetzlichen (zugleich, wie immer bei den Hebräern, historischen) Be-<lb/>
gründung der einzigen Berechtigung Jerusalems &#x2014; ein Gedanke, der<lb/>
so lange das nördliche Reich, Israel, bestand, niemals hätte gefasst<lb/>
werden können, und der selbst dem so fanatisch patriotischen und<lb/>
jerusalemitisch gesinnten Jesaia noch gänzlich fremd gewesen war.<note place="foot" n="2)">R. Smith: <hi rendition="#i">Prophets of Israel</hi> p. 438. Im Deuteronomium wird der Grund-<lb/>
stein zum eigentlichen Judentum gelegt. Es bildet den Mittelpunkt des Alten<lb/>
Testamentes in seiner jetzigen Gestalt: »von welchem aus vor- und rückwärts, mit<lb/>
einiger Aussicht auf richtiges Verständnis des übrigen, geforscht werden kann und<lb/>
muss«, sagte schon vor vielen Jahren Reuss, in seiner grundlegenden <hi rendition="#i">Geschichte des<lb/>
Alten Testaments,</hi> § 286.</note><lb/>
Dies Alles nicht etwa aus schlechter, betrügerischer Absicht, sondern<lb/>
um den Kultus des rettenden Gottes, Jahve, fortan reinzuhalten, und<lb/>
zugleich als Beginn einer moralischen Regeneration. Hier taucht z. B.<lb/>
zum ersten Mal, schüchtern und verklauselt, das Gebot auf, man solle<lb/>
Gott den Herrn <hi rendition="#g">lieben;</hi> zugleich brachte dieses Buch die fanatisch-<lb/>
dogmatische Versicherung, dass die Juden allein Gottes Volk seien, und<lb/>
damit in Verbindung tritt das Verbot von Mischehen zum ersten Mal<lb/>
auf, sowie auch das Gebot, alle »Heiden«, dort wo Juden wohnen, »aus-<lb/>
zurotten«, und jeden Juden, Mann oder Weib, der nicht rechtgläubig<lb/>
sei, zu steinigen (XVII, 5); zwei Zeugen sollten genügen, um das<lb/>
Todesurteil zu sprechen: die Welt war um den Begriff der <hi rendition="#g">religiösen<lb/>
Intoleranz</hi> reicher. Wie neu dieser Gedankengang dem Volke war,<lb/>
und unter welchen besonderen Umständen allein er Fuss fassen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[425/0448] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. den Patriarchen gegründeten, durch Theophanien geweihten Tempel um- brachte, die übrigen zu untergeordneten Dienern des jerusalemitischen Gotteshauses machte: jetzt gab es nur noch einen Gott, einen Altar, einen Hohenpriester; die Welt war um den Begriff (wenn auch noch nicht um das Wort) Kirche reicher, die Grundlage zur heutigen römi- schen, mit ihrem unfehlbaren Oberhaupt, war gelegt. Um das zu vollbringen, hatte man allerdings zu einer geschickten Fälschung greifen müssen, das Muster vieler späteren. Im Jahre 622 wurde bei einer Ausbesserung des Tempelgebäudes ein »Gesetzbuch« angeblich »ge- funden«; 1) dass es erst damals geschrieben worden war, unterliegt heute nicht dem mindesten Zweifel. Das Deuteronomium oder fünfte Buch Mose (»eine ganz überflüssigste Ausbreitung der zehn Gebote«, urteilt Luther) gilt der Einführung eines Priesterregimentes, wie es in Israel und Juda zu keiner Zeit bestanden hatte, und ausserdem der gesetzlichen (zugleich, wie immer bei den Hebräern, historischen) Be- gründung der einzigen Berechtigung Jerusalems — ein Gedanke, der so lange das nördliche Reich, Israel, bestand, niemals hätte gefasst werden können, und der selbst dem so fanatisch patriotischen und jerusalemitisch gesinnten Jesaia noch gänzlich fremd gewesen war. 2) Dies Alles nicht etwa aus schlechter, betrügerischer Absicht, sondern um den Kultus des rettenden Gottes, Jahve, fortan reinzuhalten, und zugleich als Beginn einer moralischen Regeneration. Hier taucht z. B. zum ersten Mal, schüchtern und verklauselt, das Gebot auf, man solle Gott den Herrn lieben; zugleich brachte dieses Buch die fanatisch- dogmatische Versicherung, dass die Juden allein Gottes Volk seien, und damit in Verbindung tritt das Verbot von Mischehen zum ersten Mal auf, sowie auch das Gebot, alle »Heiden«, dort wo Juden wohnen, »aus- zurotten«, und jeden Juden, Mann oder Weib, der nicht rechtgläubig sei, zu steinigen (XVII, 5); zwei Zeugen sollten genügen, um das Todesurteil zu sprechen: die Welt war um den Begriff der religiösen Intoleranz reicher. Wie neu dieser Gedankengang dem Volke war, und unter welchen besonderen Umständen allein er Fuss fassen 1) II Könige XXII. 2) R. Smith: Prophets of Israel p. 438. Im Deuteronomium wird der Grund- stein zum eigentlichen Judentum gelegt. Es bildet den Mittelpunkt des Alten Testamentes in seiner jetzigen Gestalt: »von welchem aus vor- und rückwärts, mit einiger Aussicht auf richtiges Verständnis des übrigen, geforscht werden kann und muss«, sagte schon vor vielen Jahren Reuss, in seiner grundlegenden Geschichte des Alten Testaments, § 286.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/448
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/448>, abgerufen am 10.09.2024.