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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
nachdem es das umliegende Land verwüstet und die Belagerung Jeru-
salem's begonnen hatte, plötzlich abrücken musste, da behielten die
Propheten Recht; eine Pest war im Lager ausgebrochen, sagen die
Einen, innere Wirren, sagen die Anderen, verursachten diesen Rück-
zug;1) gleichviel: an jenem Morgen des Jahres 701 vor Christus, an
dem die Bewohner Jerusalem's die Armee Sennacherib's nicht mehr
unter ihren Mauern erblickten, ward der Jude geboren und mit ihm
jener Jahve, den wir aus der Bibel kennen. Dieser Tag ist der
Angelpunkt in der Geschichte Juda's.
Selbst die fremden
Völker erblickten in der Errettung Jerusalem's ein göttliches Wunder.
Mit einem Schlag waren die bisher verhöhnten und verfolgten Pro-
pheten -- Jesaia und Micha -- die Helden des Tages; der König musste
zu ihrer Partei übertreten und die Reinigung des Landes von fremden
Göttern beginnen. Der Glaube an die Vorsehung Jahve's, die Meinung,
dass alles Wohlergehen von dem passiven Gehorsam gegen seine Gebote
abhänge, dass jedes nationale Unglück als Prüfung oder Strafe eintrete,
die unerschütterliche Überzeugung, dass Juda das auserwählte Volk
Gottes sei, wogegen die anderen Völker tief unter ihm stünden, kurz,
der ganze Komplex von Vorstellungen, der die Seele des Judentums
ausmachen sollte, entstand jetzt, entwickelte sich ziemlich rasch aus
Keimen, die unter normalen Verhältnissen niemals solche Blüten her-
vorgebracht hätten, schenkte grosse Widerstandskraft, erstickte dafür
viel Vernünftiges, Gesundes, Natürliches, wurde zu einer idea fixa.
Jetzt erst wurden jene folgenschweren Worte geschrieben: "Zu deinen
Vätern allein hat Gott Lust gehabt, dass er sie liebte, und nach ihnen
ist es ihr Same, den er allein unter allen Völkern auserwählt hat"
(Deut. X, 15). Vom Jahre 701 bis zum Jahre 586, wo Jerusalem
zerstört wurde, hatten die Juden über ein Jahrhundert Zeit zur Aus-
bildung dieser Idee. Die Propheten und Priester, die jetzt das Heft
in der Hand hielten, benützten die Frist gut. Trotz der liberalen
Reaktion Manasse's, haben sie es fertig gebracht, erst die anderen
Götter zu vertreiben und sodann den genialen Wahngedanken einzu-
führen, man könne Gott einzig und allein in Jerusalem verehren,
weswegen König Josiah die "heiligen Höhen" und alle anderen heiligsten
Altäre des Volkes zerstörte, die meisten Leviten dieser angeblich von

1) Vergl. über diese Frage Cheyne: Introduction to the Book of Isaiah, p. 231 fg.
Interessant ist es, aus den assyrischen Berichten zu erfahren, dass Jerusalem durch
ein arabisches Söldnerheer verteidigt war; durch den Mangel an militärischer Be-
fähigung hat sich Juda von jeher ausgezeichnet.

Die Erben.
nachdem es das umliegende Land verwüstet und die Belagerung Jeru-
salem’s begonnen hatte, plötzlich abrücken musste, da behielten die
Propheten Recht; eine Pest war im Lager ausgebrochen, sagen die
Einen, innere Wirren, sagen die Anderen, verursachten diesen Rück-
zug;1) gleichviel: an jenem Morgen des Jahres 701 vor Christus, an
dem die Bewohner Jerusalem’s die Armee Sennacherib’s nicht mehr
unter ihren Mauern erblickten, ward der Jude geboren und mit ihm
jener Jahve, den wir aus der Bibel kennen. Dieser Tag ist der
Angelpunkt in der Geschichte Juda’s.
Selbst die fremden
Völker erblickten in der Errettung Jerusalem’s ein göttliches Wunder.
Mit einem Schlag waren die bisher verhöhnten und verfolgten Pro-
pheten — Jesaia und Micha — die Helden des Tages; der König musste
zu ihrer Partei übertreten und die Reinigung des Landes von fremden
Göttern beginnen. Der Glaube an die Vorsehung Jahve’s, die Meinung,
dass alles Wohlergehen von dem passiven Gehorsam gegen seine Gebote
abhänge, dass jedes nationale Unglück als Prüfung oder Strafe eintrete,
die unerschütterliche Überzeugung, dass Juda das auserwählte Volk
Gottes sei, wogegen die anderen Völker tief unter ihm stünden, kurz,
der ganze Komplex von Vorstellungen, der die Seele des Judentums
ausmachen sollte, entstand jetzt, entwickelte sich ziemlich rasch aus
Keimen, die unter normalen Verhältnissen niemals solche Blüten her-
vorgebracht hätten, schenkte grosse Widerstandskraft, erstickte dafür
viel Vernünftiges, Gesundes, Natürliches, wurde zu einer idea fixa.
Jetzt erst wurden jene folgenschweren Worte geschrieben: »Zu deinen
Vätern allein hat Gott Lust gehabt, dass er sie liebte, und nach ihnen
ist es ihr Same, den er allein unter allen Völkern auserwählt hat«
(Deut. X, 15). Vom Jahre 701 bis zum Jahre 586, wo Jerusalem
zerstört wurde, hatten die Juden über ein Jahrhundert Zeit zur Aus-
bildung dieser Idee. Die Propheten und Priester, die jetzt das Heft
in der Hand hielten, benützten die Frist gut. Trotz der liberalen
Reaktion Manasse’s, haben sie es fertig gebracht, erst die anderen
Götter zu vertreiben und sodann den genialen Wahngedanken einzu-
führen, man könne Gott einzig und allein in Jerusalem verehren,
weswegen König Josiah die »heiligen Höhen« und alle anderen heiligsten
Altäre des Volkes zerstörte, die meisten Leviten dieser angeblich von

1) Vergl. über diese Frage Cheyne: Introduction to the Book of Isaiah, p. 231 fg.
Interessant ist es, aus den assyrischen Berichten zu erfahren, dass Jerusalem durch
ein arabisches Söldnerheer verteidigt war; durch den Mangel an militärischer Be-
fähigung hat sich Juda von jeher ausgezeichnet.
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[424/0447] Die Erben. nachdem es das umliegende Land verwüstet und die Belagerung Jeru- salem’s begonnen hatte, plötzlich abrücken musste, da behielten die Propheten Recht; eine Pest war im Lager ausgebrochen, sagen die Einen, innere Wirren, sagen die Anderen, verursachten diesen Rück- zug; 1) gleichviel: an jenem Morgen des Jahres 701 vor Christus, an dem die Bewohner Jerusalem’s die Armee Sennacherib’s nicht mehr unter ihren Mauern erblickten, ward der Jude geboren und mit ihm jener Jahve, den wir aus der Bibel kennen. Dieser Tag ist der Angelpunkt in der Geschichte Juda’s. Selbst die fremden Völker erblickten in der Errettung Jerusalem’s ein göttliches Wunder. Mit einem Schlag waren die bisher verhöhnten und verfolgten Pro- pheten — Jesaia und Micha — die Helden des Tages; der König musste zu ihrer Partei übertreten und die Reinigung des Landes von fremden Göttern beginnen. Der Glaube an die Vorsehung Jahve’s, die Meinung, dass alles Wohlergehen von dem passiven Gehorsam gegen seine Gebote abhänge, dass jedes nationale Unglück als Prüfung oder Strafe eintrete, die unerschütterliche Überzeugung, dass Juda das auserwählte Volk Gottes sei, wogegen die anderen Völker tief unter ihm stünden, kurz, der ganze Komplex von Vorstellungen, der die Seele des Judentums ausmachen sollte, entstand jetzt, entwickelte sich ziemlich rasch aus Keimen, die unter normalen Verhältnissen niemals solche Blüten her- vorgebracht hätten, schenkte grosse Widerstandskraft, erstickte dafür viel Vernünftiges, Gesundes, Natürliches, wurde zu einer idea fixa. Jetzt erst wurden jene folgenschweren Worte geschrieben: »Zu deinen Vätern allein hat Gott Lust gehabt, dass er sie liebte, und nach ihnen ist es ihr Same, den er allein unter allen Völkern auserwählt hat« (Deut. X, 15). Vom Jahre 701 bis zum Jahre 586, wo Jerusalem zerstört wurde, hatten die Juden über ein Jahrhundert Zeit zur Aus- bildung dieser Idee. Die Propheten und Priester, die jetzt das Heft in der Hand hielten, benützten die Frist gut. Trotz der liberalen Reaktion Manasse’s, haben sie es fertig gebracht, erst die anderen Götter zu vertreiben und sodann den genialen Wahngedanken einzu- führen, man könne Gott einzig und allein in Jerusalem verehren, weswegen König Josiah die »heiligen Höhen« und alle anderen heiligsten Altäre des Volkes zerstörte, die meisten Leviten dieser angeblich von 1) Vergl. über diese Frage Cheyne: Introduction to the Book of Isaiah, p. 231 fg. Interessant ist es, aus den assyrischen Berichten zu erfahren, dass Jerusalem durch ein arabisches Söldnerheer verteidigt war; durch den Mangel an militärischer Be- fähigung hat sich Juda von jeher ausgezeichnet.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/447>, abgerufen am 10.09.2024.