Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
in Ephraim, im südlichen Reiche ein abgeschwächtes Echo hervor-
rief."1) Alles Geschichtliche, was das Alte Testament aus vorexilischer
Zeit enthält, bis zu David, sowie auch manches spätere, stammt aus
Israel, nicht aus Juda. Um das nachzuweisen, müsste ich die
Resultate der biblischen Kritik mit einiger Ausführlichkeit analysieren,
was zu weit führen würde; die klarste und kürzeste Zusammen-
fassung findet der Laie in Renan's Israel, Buch IV, Kap. 2 und 3;
ungleich mehr Belehrung (wenn er die Mühe daran wenden will)
und daher auch tiefere Einsicht, gewähren die kritischen Werke
Dillmann's, Wellhausen's u. s. w. Das in IV Mose XXI, 14 genannte
"Buch der Kriege Jahve's" und andere verschwundene Quellen, aus
denen nicht allein die geschichtlichen Teile des Hexateuch, sondern
auch die Bücher Samuelis, der Könige u. s. w. später redigiert wurden,
sind im Hause Joseph's, dessen Ruhm sie singen, entstanden. Wo
der Stamm Juda überhaupt genannt wird, geschieht es in der
offenbaren Absicht, ihn herabzusetzen, z. B. Gen. XXXVII, wo Juda
allein auf den niederträchtigen Einfall gerät, Joseph für Geld zu
verkaufen, und noch mehr im folgenden Kapitel, wo dieser Stamm
von Beginn an als ein sittenloser und aus Blutschande hervorgegangener
dargestellt wird, worauf als Kontrast sofort die Geschichte des keuschen
Joseph folgt. Dies lediglich als Beispiel. Auch das religiöse Gesetz
stammt in seinen grossen grundlegenden Zügen aus Israel, nicht
aus Juda. Über die zehn Gebote ist viel hin- und hergestritten
worden, namentlich seit Goethe's Entdeckung -- von Wellhausen
aus der Vergessenheit entrissen und wissenschaftlich ausgeführt --
dass die urprünglichen zehn Gebote (Exodus XXXIV) durchaus
anders lauteten, als die später interpolierten und sich lediglich auf
Angelegenheiten des Kultus bezogen.2) Uns kann es genügen,
dass auch der spätere Dekalog aus Exodus XX, der im christlichen
Katechismus einen Platz gefunden hat, nach der Meinung eines so
gelehrten und orthodoxen Rabbiners wie Salomon Schechter, das
Werk eines Priesters aus dem nördlichen Reiche, nicht aus Judäa ist,
eines Mannes, der etwa im 9. Jahrhundert gelebt haben dürfte, also
mindestens 100 bis 150 Jahre nach Salomo, zur Zeit der grossen

1) The Prophets of Israel, p. 192. Hier ist in anschaulicher Weise kurz zu-
sammengefasst, was derselbe Gelehrte und andere an vielen Orten ausführlich be-
gründet haben.
2) Goethe: Zwo wichtige, bisher unerörterte biblische Fragen, zum ersten Mal
gründlich beantwortet. Erste Frage: Was stund auf den Tafeln des Bundes?
27*

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
in Ephraim, im südlichen Reiche ein abgeschwächtes Echo hervor-
rief.«1) Alles Geschichtliche, was das Alte Testament aus vorexilischer
Zeit enthält, bis zu David, sowie auch manches spätere, stammt aus
Israel, nicht aus Juda. Um das nachzuweisen, müsste ich die
Resultate der biblischen Kritik mit einiger Ausführlichkeit analysieren,
was zu weit führen würde; die klarste und kürzeste Zusammen-
fassung findet der Laie in Renan’s Israël, Buch IV, Kap. 2 und 3;
ungleich mehr Belehrung (wenn er die Mühe daran wenden will)
und daher auch tiefere Einsicht, gewähren die kritischen Werke
Dillmann’s, Wellhausen’s u. s. w. Das in IV Mose XXI, 14 genannte
»Buch der Kriege Jahve’s« und andere verschwundene Quellen, aus
denen nicht allein die geschichtlichen Teile des Hexateuch, sondern
auch die Bücher Samuelis, der Könige u. s. w. später redigiert wurden,
sind im Hause Joseph’s, dessen Ruhm sie singen, entstanden. Wo
der Stamm Juda überhaupt genannt wird, geschieht es in der
offenbaren Absicht, ihn herabzusetzen, z. B. Gen. XXXVII, wo Juda
allein auf den niederträchtigen Einfall gerät, Joseph für Geld zu
verkaufen, und noch mehr im folgenden Kapitel, wo dieser Stamm
von Beginn an als ein sittenloser und aus Blutschande hervorgegangener
dargestellt wird, worauf als Kontrast sofort die Geschichte des keuschen
Joseph folgt. Dies lediglich als Beispiel. Auch das religiöse Gesetz
stammt in seinen grossen grundlegenden Zügen aus Israel, nicht
aus Juda. Über die zehn Gebote ist viel hin- und hergestritten
worden, namentlich seit Goethe’s Entdeckung — von Wellhausen
aus der Vergessenheit entrissen und wissenschaftlich ausgeführt —
dass die urprünglichen zehn Gebote (Exodus XXXIV) durchaus
anders lauteten, als die später interpolierten und sich lediglich auf
Angelegenheiten des Kultus bezogen.2) Uns kann es genügen,
dass auch der spätere Dekalog aus Exodus XX, der im christlichen
Katechismus einen Platz gefunden hat, nach der Meinung eines so
gelehrten und orthodoxen Rabbiners wie Salomon Schechter, das
Werk eines Priesters aus dem nördlichen Reiche, nicht aus Judäa ist,
eines Mannes, der etwa im 9. Jahrhundert gelebt haben dürfte, also
mindestens 100 bis 150 Jahre nach Salomo, zur Zeit der grossen

1) The Prophets of Israel, p. 192. Hier ist in anschaulicher Weise kurz zu-
sammengefasst, was derselbe Gelehrte und andere an vielen Orten ausführlich be-
gründet haben.
2) Goethe: Zwo wichtige, bisher unerörterte biblische Fragen, zum ersten Mal
gründlich beantwortet. Erste Frage: Was stund auf den Tafeln des Bundes?
27*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0442" n="419"/><fw place="top" type="header">Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.</fw><lb/>
in Ephraim, im südlichen Reiche ein abgeschwächtes Echo hervor-<lb/>
rief.«<note place="foot" n="1)"><hi rendition="#i">The Prophets of Israel,</hi> p. 192. Hier ist in anschaulicher Weise kurz zu-<lb/>
sammengefasst, was derselbe Gelehrte und andere an vielen Orten ausführlich be-<lb/>
gründet haben.</note> Alles Geschichtliche, was das Alte Testament aus vorexilischer<lb/>
Zeit enthält, bis zu David, sowie auch manches spätere, stammt aus<lb/>
Israel, nicht aus Juda. Um das nachzuweisen, müsste ich die<lb/>
Resultate der biblischen Kritik mit einiger Ausführlichkeit analysieren,<lb/>
was zu weit führen würde; die klarste und kürzeste Zusammen-<lb/>
fassung findet der Laie in Renan&#x2019;s <hi rendition="#i">Israël,</hi> Buch IV, Kap. 2 und 3;<lb/>
ungleich mehr Belehrung (wenn er die Mühe daran wenden will)<lb/>
und daher auch tiefere Einsicht, gewähren die kritischen Werke<lb/>
Dillmann&#x2019;s, Wellhausen&#x2019;s u. s. w. Das in IV <hi rendition="#i">Mose</hi> XXI, 14 genannte<lb/>
»Buch der Kriege Jahve&#x2019;s« und andere verschwundene Quellen, aus<lb/>
denen nicht allein die geschichtlichen Teile des Hexateuch, sondern<lb/>
auch die Bücher Samuelis, der Könige u. s. w. später redigiert wurden,<lb/>
sind im Hause Joseph&#x2019;s, dessen Ruhm sie singen, entstanden. Wo<lb/>
der Stamm Juda überhaupt genannt wird, geschieht es in der<lb/>
offenbaren Absicht, ihn herabzusetzen, z. B. <hi rendition="#i">Gen.</hi> XXXVII, wo Juda<lb/>
allein auf den niederträchtigen Einfall gerät, Joseph für Geld zu<lb/>
verkaufen, und noch mehr im folgenden Kapitel, wo dieser Stamm<lb/>
von Beginn an als ein sittenloser und aus Blutschande hervorgegangener<lb/>
dargestellt wird, worauf als Kontrast sofort die Geschichte des keuschen<lb/>
Joseph folgt. Dies lediglich als Beispiel. Auch das religiöse Gesetz<lb/>
stammt in seinen grossen grundlegenden Zügen aus Israel, nicht<lb/>
aus Juda. Über die zehn Gebote ist viel hin- und hergestritten<lb/>
worden, namentlich seit Goethe&#x2019;s Entdeckung &#x2014; von Wellhausen<lb/>
aus der Vergessenheit entrissen und wissenschaftlich ausgeführt &#x2014;<lb/>
dass die urprünglichen zehn Gebote <hi rendition="#i">(Exodus</hi> XXXIV) durchaus<lb/>
anders lauteten, als die später interpolierten und sich lediglich auf<lb/>
Angelegenheiten des Kultus bezogen.<note place="foot" n="2)">Goethe: <hi rendition="#i">Zwo wichtige, bisher unerörterte biblische Fragen, zum ersten Mal<lb/>
gründlich beantwortet. Erste Frage: Was stund auf den Tafeln des Bundes?</hi></note> Uns kann es genügen,<lb/>
dass auch der spätere Dekalog aus <hi rendition="#i">Exodus</hi> XX, der im christlichen<lb/>
Katechismus einen Platz gefunden hat, nach der Meinung eines so<lb/>
gelehrten und orthodoxen Rabbiners wie Salomon Schechter, das<lb/>
Werk eines Priesters aus dem nördlichen Reiche, nicht aus Judäa ist,<lb/>
eines Mannes, der etwa im 9. Jahrhundert gelebt haben dürfte, also<lb/>
mindestens 100 bis 150 Jahre nach Salomo, zur Zeit der grossen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">27*</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[419/0442] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. in Ephraim, im südlichen Reiche ein abgeschwächtes Echo hervor- rief.« 1) Alles Geschichtliche, was das Alte Testament aus vorexilischer Zeit enthält, bis zu David, sowie auch manches spätere, stammt aus Israel, nicht aus Juda. Um das nachzuweisen, müsste ich die Resultate der biblischen Kritik mit einiger Ausführlichkeit analysieren, was zu weit führen würde; die klarste und kürzeste Zusammen- fassung findet der Laie in Renan’s Israël, Buch IV, Kap. 2 und 3; ungleich mehr Belehrung (wenn er die Mühe daran wenden will) und daher auch tiefere Einsicht, gewähren die kritischen Werke Dillmann’s, Wellhausen’s u. s. w. Das in IV Mose XXI, 14 genannte »Buch der Kriege Jahve’s« und andere verschwundene Quellen, aus denen nicht allein die geschichtlichen Teile des Hexateuch, sondern auch die Bücher Samuelis, der Könige u. s. w. später redigiert wurden, sind im Hause Joseph’s, dessen Ruhm sie singen, entstanden. Wo der Stamm Juda überhaupt genannt wird, geschieht es in der offenbaren Absicht, ihn herabzusetzen, z. B. Gen. XXXVII, wo Juda allein auf den niederträchtigen Einfall gerät, Joseph für Geld zu verkaufen, und noch mehr im folgenden Kapitel, wo dieser Stamm von Beginn an als ein sittenloser und aus Blutschande hervorgegangener dargestellt wird, worauf als Kontrast sofort die Geschichte des keuschen Joseph folgt. Dies lediglich als Beispiel. Auch das religiöse Gesetz stammt in seinen grossen grundlegenden Zügen aus Israel, nicht aus Juda. Über die zehn Gebote ist viel hin- und hergestritten worden, namentlich seit Goethe’s Entdeckung — von Wellhausen aus der Vergessenheit entrissen und wissenschaftlich ausgeführt — dass die urprünglichen zehn Gebote (Exodus XXXIV) durchaus anders lauteten, als die später interpolierten und sich lediglich auf Angelegenheiten des Kultus bezogen. 2) Uns kann es genügen, dass auch der spätere Dekalog aus Exodus XX, der im christlichen Katechismus einen Platz gefunden hat, nach der Meinung eines so gelehrten und orthodoxen Rabbiners wie Salomon Schechter, das Werk eines Priesters aus dem nördlichen Reiche, nicht aus Judäa ist, eines Mannes, der etwa im 9. Jahrhundert gelebt haben dürfte, also mindestens 100 bis 150 Jahre nach Salomo, zur Zeit der grossen 1) The Prophets of Israel, p. 192. Hier ist in anschaulicher Weise kurz zu- sammengefasst, was derselbe Gelehrte und andere an vielen Orten ausführlich be- gründet haben. 2) Goethe: Zwo wichtige, bisher unerörterte biblische Fragen, zum ersten Mal gründlich beantwortet. Erste Frage: Was stund auf den Tafeln des Bundes? 27*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/442
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/442>, abgerufen am 23.11.2024.