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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
aus der nächsten ephraimitischen Verwandtschaft, den Schwerpunkt
ein wenig nach Süden verlegt hatte. Gleich nach Salomo's Tod
gerieten die Könige Judas in eine Art Vasallenverhältnis zu denen
Israels, zum mindesten waren sie deren gezwungene und unter-
geordnete Bundesgenossen. Doch handelt es sich hier nicht bloss
um politische Eifersüchtelei; diese würde unsere Aufmerksamkeit nicht
verdienen; sondern um einen tiefgehenden Unterschied in der Be-
gabung und in der moralischen Veranlagung, um einen Unterschied,
der in allen Geschichtswerken hervorgehoben wird, und der eine
wichtigste Grundlage zu der späteren so eigentümlichen und durchaus
antiisraelitischen Entwickelung des Judentums abgiebt. Später wurde
ja Juda materiell von Israel durch die Gefangennahme und Ent-
führung dieses letzteren isoliert und auf ewig geschieden (sieben
Jahrhunderte vor Christo); Juda behielt aber von seinem Bruder ein
geistiges Erbe: die Geschichte des Volkes, die Grundlagen seiner
politischen Organisation, seiner Religion, seines Kultus, seines Gesetzes,
seiner Poesie -- -- --. Alles dies, d. h. also alles Schöpferische, ist
in den wesentlichen Stücken israelitisches Werk, nicht das Werk
Juda's.
Nun aber blieb Juda allein zurück und bearbeitete dieses
Material seinem besonderen Geiste gemäss; daraus -- aus diesem
Werk der bisher unmündigen, nunmehr plötzlich sich selbst über-
lassenen Söhne Juda's -- wurde das Judentum; und (wie aus der
Henne das Ei und aus dem Ei die Henne) aus dem Judentum entsprang
der Jude.

In dem Betonen der geistigen Überlegenheit des Hauses Joseph
sind alle Autoren einig; einen einzigen will ich als Beleg anführen.
Robertson Smith schreibt: "Das nördliche Reich war es, welches die
Fahne Israels hochhielt: seine ganze Geschichte ist interessanter und
reicher an heroischen Elementen; seine Kämpfe, seine Niederlagen
und seine Ruhmesthaten, alles ist gewaltiger -- -- -- Das Leben im
Norden war ruheloser, es war aber auch geistig regsamer und
intensiver. Ephraim war der Führer nicht allein in Politik, auch in
Litteratur und Religion. In Ephraim, viel mehr als in Juda, wurden
die Überlieferungen der Vergangenheit heilig gehalten, zugleich aber
fand gerade dort jene Entwickelung der Religion statt, welche zu
neuen Problemen und somit zum Auftreten der Propheten führte.
So lange das nördliche Reich stand, war Juda sein Schüler, der
beides, Gutes und Übles, von ihm annahm. Es wäre leicht
nachzuweisen, dass jede bedeutende Regung des Lebens und Denkens

Die Erben.
aus der nächsten ephraimitischen Verwandtschaft, den Schwerpunkt
ein wenig nach Süden verlegt hatte. Gleich nach Salomo’s Tod
gerieten die Könige Judas in eine Art Vasallenverhältnis zu denen
Israels, zum mindesten waren sie deren gezwungene und unter-
geordnete Bundesgenossen. Doch handelt es sich hier nicht bloss
um politische Eifersüchtelei; diese würde unsere Aufmerksamkeit nicht
verdienen; sondern um einen tiefgehenden Unterschied in der Be-
gabung und in der moralischen Veranlagung, um einen Unterschied,
der in allen Geschichtswerken hervorgehoben wird, und der eine
wichtigste Grundlage zu der späteren so eigentümlichen und durchaus
antiisraelitischen Entwickelung des Judentums abgiebt. Später wurde
ja Juda materiell von Israel durch die Gefangennahme und Ent-
führung dieses letzteren isoliert und auf ewig geschieden (sieben
Jahrhunderte vor Christo); Juda behielt aber von seinem Bruder ein
geistiges Erbe: die Geschichte des Volkes, die Grundlagen seiner
politischen Organisation, seiner Religion, seines Kultus, seines Gesetzes,
seiner Poesie — — —. Alles dies, d. h. also alles Schöpferische, ist
in den wesentlichen Stücken israelitisches Werk, nicht das Werk
Juda’s.
Nun aber blieb Juda allein zurück und bearbeitete dieses
Material seinem besonderen Geiste gemäss; daraus — aus diesem
Werk der bisher unmündigen, nunmehr plötzlich sich selbst über-
lassenen Söhne Juda’s — wurde das Judentum; und (wie aus der
Henne das Ei und aus dem Ei die Henne) aus dem Judentum entsprang
der Jude.

In dem Betonen der geistigen Überlegenheit des Hauses Joseph
sind alle Autoren einig; einen einzigen will ich als Beleg anführen.
Robertson Smith schreibt: »Das nördliche Reich war es, welches die
Fahne Israels hochhielt: seine ganze Geschichte ist interessanter und
reicher an heroischen Elementen; seine Kämpfe, seine Niederlagen
und seine Ruhmesthaten, alles ist gewaltiger — — — Das Leben im
Norden war ruheloser, es war aber auch geistig regsamer und
intensiver. Ephraim war der Führer nicht allein in Politik, auch in
Litteratur und Religion. In Ephraim, viel mehr als in Juda, wurden
die Überlieferungen der Vergangenheit heilig gehalten, zugleich aber
fand gerade dort jene Entwickelung der Religion statt, welche zu
neuen Problemen und somit zum Auftreten der Propheten führte.
So lange das nördliche Reich stand, war Juda sein Schüler, der
beides, Gutes und Übles, von ihm annahm. Es wäre leicht
nachzuweisen, dass jede bedeutende Regung des Lebens und Denkens

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[418/0441] Die Erben. aus der nächsten ephraimitischen Verwandtschaft, den Schwerpunkt ein wenig nach Süden verlegt hatte. Gleich nach Salomo’s Tod gerieten die Könige Judas in eine Art Vasallenverhältnis zu denen Israels, zum mindesten waren sie deren gezwungene und unter- geordnete Bundesgenossen. Doch handelt es sich hier nicht bloss um politische Eifersüchtelei; diese würde unsere Aufmerksamkeit nicht verdienen; sondern um einen tiefgehenden Unterschied in der Be- gabung und in der moralischen Veranlagung, um einen Unterschied, der in allen Geschichtswerken hervorgehoben wird, und der eine wichtigste Grundlage zu der späteren so eigentümlichen und durchaus antiisraelitischen Entwickelung des Judentums abgiebt. Später wurde ja Juda materiell von Israel durch die Gefangennahme und Ent- führung dieses letzteren isoliert und auf ewig geschieden (sieben Jahrhunderte vor Christo); Juda behielt aber von seinem Bruder ein geistiges Erbe: die Geschichte des Volkes, die Grundlagen seiner politischen Organisation, seiner Religion, seines Kultus, seines Gesetzes, seiner Poesie — — —. Alles dies, d. h. also alles Schöpferische, ist in den wesentlichen Stücken israelitisches Werk, nicht das Werk Juda’s. Nun aber blieb Juda allein zurück und bearbeitete dieses Material seinem besonderen Geiste gemäss; daraus — aus diesem Werk der bisher unmündigen, nunmehr plötzlich sich selbst über- lassenen Söhne Juda’s — wurde das Judentum; und (wie aus der Henne das Ei und aus dem Ei die Henne) aus dem Judentum entsprang der Jude. In dem Betonen der geistigen Überlegenheit des Hauses Joseph sind alle Autoren einig; einen einzigen will ich als Beleg anführen. Robertson Smith schreibt: »Das nördliche Reich war es, welches die Fahne Israels hochhielt: seine ganze Geschichte ist interessanter und reicher an heroischen Elementen; seine Kämpfe, seine Niederlagen und seine Ruhmesthaten, alles ist gewaltiger — — — Das Leben im Norden war ruheloser, es war aber auch geistig regsamer und intensiver. Ephraim war der Führer nicht allein in Politik, auch in Litteratur und Religion. In Ephraim, viel mehr als in Juda, wurden die Überlieferungen der Vergangenheit heilig gehalten, zugleich aber fand gerade dort jene Entwickelung der Religion statt, welche zu neuen Problemen und somit zum Auftreten der Propheten führte. So lange das nördliche Reich stand, war Juda sein Schüler, der beides, Gutes und Übles, von ihm annahm. Es wäre leicht nachzuweisen, dass jede bedeutende Regung des Lebens und Denkens

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/441>, abgerufen am 09.09.2024.