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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
lichkeit. Der Eine stand für Alle; sein Thun, welches der frühere
Wahn der fast gleichgültigen Entscheidung seiner Willkür anheimzu-
stellen schien, war jetzt von unvergänglicher Bedeutung; denn sowie
das Natürliche in Wahrheit ein Übernatürliches ist, ebenso schliesst
der Augenblick die Ewigkeit ein und ist nur deren Symbol. -- Das galt
bei den arischen Indern als Religion, das verstanden sie unter Glauben.

Durch diesen Kontrast hoffe ich die ganz besondere und unter-
scheidende Art der semitischen Auffassung von Religion und Glauben
deutlich gemacht zu haben; ich glaube, gezeigt zu haben, worin ihre
grosse -- zu mancher kühnen That und manchem aufopferungsvollen
Gedanken befähigende -- Kraft lag, worin auch ihre Beschränkung;
mehr ist hier nicht nötig; welche geschichtliche Bedeutung diese Kraft
und diese Beschränkung erreichten, ist bekannt. Man wäre fast ge-
neigt, das Paradoxon zu wagen: Religion und Glaube schliessen sich
gegenseitig aus, oder wenigstens zu sagen: wenn eins von beiden zu-
nimmt, nimmt das andere ab. Doch wäre das ein Spiel mit Worten,
da offenbar Religion und Glaube für den Semiten einen ganz anderen
Sinn besitzen, als für andere Menschen. Die Sache wird erst dort ver-
wickelt, wo wir nicht mehr dem reinen Semiten oder, wie bei den
Juden, dem einseitig starken Vorwalten des semitischen Geistes begegnen,
sondern bloss einer Infiltration des semitischen Geistes, wie in unserer
eigenen europäischen Geschichte seit dem Beginn unserer christlichen
Zeitrechnung. Dadurch entsteht eine fast unentwirrbare Konfusion der
Begriffe und darum habe ich mit einer gewissen Ausführlichkeit dieses
Thema erörtern müssen; denn der folgenreichste "Eintritt der Juden
in die abendländische Geschichte" ist die Begründung der christlichen
Kirche auf einer teilweise semitischen Grundlage, und die Einführung
der Begriffe "Glaube" und "Religion" im semitischen Sinne des Wortes
in eine Religion, welche, im Grunde genommen, und schon durch
das Leben Christi, die direkte, unbedingte Leugnung der semitischen
Auffassung war, und welche ausserdem, durch ihren weiteren mytho-
logischen und philosophischen Ausbau, zu einem durchaus indoeuro-
päischen, unsemitischen Gebilde wurde. Es ist unmöglich, den Ein-
fluss des Judentums auf unsere ganze Geschichte vom Anfang an
bis zum heutigen Tag klar herauszusondern, wenn man nicht über
diese fundamentalen Begriffe "Religion" und "Glaube" bis zur vollen
anschaulichen Deutlichkeit durchgedrungen ist. Ich gestehe, noch
nie ein Werk gesehen zu haben, von welcher Art es auch immer
sei, dem das nur annähernd gelungen wäre; meistens wird das Problem

Die Erben.
lichkeit. Der Eine stand für Alle; sein Thun, welches der frühere
Wahn der fast gleichgültigen Entscheidung seiner Willkür anheimzu-
stellen schien, war jetzt von unvergänglicher Bedeutung; denn sowie
das Natürliche in Wahrheit ein Übernatürliches ist, ebenso schliesst
der Augenblick die Ewigkeit ein und ist nur deren Symbol. — Das galt
bei den arischen Indern als Religion, das verstanden sie unter Glauben.

Durch diesen Kontrast hoffe ich die ganz besondere und unter-
scheidende Art der semitischen Auffassung von Religion und Glauben
deutlich gemacht zu haben; ich glaube, gezeigt zu haben, worin ihre
grosse — zu mancher kühnen That und manchem aufopferungsvollen
Gedanken befähigende — Kraft lag, worin auch ihre Beschränkung;
mehr ist hier nicht nötig; welche geschichtliche Bedeutung diese Kraft
und diese Beschränkung erreichten, ist bekannt. Man wäre fast ge-
neigt, das Paradoxon zu wagen: Religion und Glaube schliessen sich
gegenseitig aus, oder wenigstens zu sagen: wenn eins von beiden zu-
nimmt, nimmt das andere ab. Doch wäre das ein Spiel mit Worten,
da offenbar Religion und Glaube für den Semiten einen ganz anderen
Sinn besitzen, als für andere Menschen. Die Sache wird erst dort ver-
wickelt, wo wir nicht mehr dem reinen Semiten oder, wie bei den
Juden, dem einseitig starken Vorwalten des semitischen Geistes begegnen,
sondern bloss einer Infiltration des semitischen Geistes, wie in unserer
eigenen europäischen Geschichte seit dem Beginn unserer christlichen
Zeitrechnung. Dadurch entsteht eine fast unentwirrbare Konfusion der
Begriffe und darum habe ich mit einer gewissen Ausführlichkeit dieses
Thema erörtern müssen; denn der folgenreichste »Eintritt der Juden
in die abendländische Geschichte« ist die Begründung der christlichen
Kirche auf einer teilweise semitischen Grundlage, und die Einführung
der Begriffe »Glaube« und »Religion« im semitischen Sinne des Wortes
in eine Religion, welche, im Grunde genommen, und schon durch
das Leben Christi, die direkte, unbedingte Leugnung der semitischen
Auffassung war, und welche ausserdem, durch ihren weiteren mytho-
logischen und philosophischen Ausbau, zu einem durchaus indoeuro-
päischen, unsemitischen Gebilde wurde. Es ist unmöglich, den Ein-
fluss des Judentums auf unsere ganze Geschichte vom Anfang an
bis zum heutigen Tag klar herauszusondern, wenn man nicht über
diese fundamentalen Begriffe »Religion« und »Glaube« bis zur vollen
anschaulichen Deutlichkeit durchgedrungen ist. Ich gestehe, noch
nie ein Werk gesehen zu haben, von welcher Art es auch immer
sei, dem das nur annähernd gelungen wäre; meistens wird das Problem

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[414/0437] Die Erben. lichkeit. Der Eine stand für Alle; sein Thun, welches der frühere Wahn der fast gleichgültigen Entscheidung seiner Willkür anheimzu- stellen schien, war jetzt von unvergänglicher Bedeutung; denn sowie das Natürliche in Wahrheit ein Übernatürliches ist, ebenso schliesst der Augenblick die Ewigkeit ein und ist nur deren Symbol. — Das galt bei den arischen Indern als Religion, das verstanden sie unter Glauben. Durch diesen Kontrast hoffe ich die ganz besondere und unter- scheidende Art der semitischen Auffassung von Religion und Glauben deutlich gemacht zu haben; ich glaube, gezeigt zu haben, worin ihre grosse — zu mancher kühnen That und manchem aufopferungsvollen Gedanken befähigende — Kraft lag, worin auch ihre Beschränkung; mehr ist hier nicht nötig; welche geschichtliche Bedeutung diese Kraft und diese Beschränkung erreichten, ist bekannt. Man wäre fast ge- neigt, das Paradoxon zu wagen: Religion und Glaube schliessen sich gegenseitig aus, oder wenigstens zu sagen: wenn eins von beiden zu- nimmt, nimmt das andere ab. Doch wäre das ein Spiel mit Worten, da offenbar Religion und Glaube für den Semiten einen ganz anderen Sinn besitzen, als für andere Menschen. Die Sache wird erst dort ver- wickelt, wo wir nicht mehr dem reinen Semiten oder, wie bei den Juden, dem einseitig starken Vorwalten des semitischen Geistes begegnen, sondern bloss einer Infiltration des semitischen Geistes, wie in unserer eigenen europäischen Geschichte seit dem Beginn unserer christlichen Zeitrechnung. Dadurch entsteht eine fast unentwirrbare Konfusion der Begriffe und darum habe ich mit einer gewissen Ausführlichkeit dieses Thema erörtern müssen; denn der folgenreichste »Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte« ist die Begründung der christlichen Kirche auf einer teilweise semitischen Grundlage, und die Einführung der Begriffe »Glaube« und »Religion« im semitischen Sinne des Wortes in eine Religion, welche, im Grunde genommen, und schon durch das Leben Christi, die direkte, unbedingte Leugnung der semitischen Auffassung war, und welche ausserdem, durch ihren weiteren mytho- logischen und philosophischen Ausbau, zu einem durchaus indoeuro- päischen, unsemitischen Gebilde wurde. Es ist unmöglich, den Ein- fluss des Judentums auf unsere ganze Geschichte vom Anfang an bis zum heutigen Tag klar herauszusondern, wenn man nicht über diese fundamentalen Begriffe »Religion« und »Glaube« bis zur vollen anschaulichen Deutlichkeit durchgedrungen ist. Ich gestehe, noch nie ein Werk gesehen zu haben, von welcher Art es auch immer sei, dem das nur annähernd gelungen wäre; meistens wird das Problem

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/437>, abgerufen am 24.11.2024.