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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
gar nichts,1) die bona fides der rechtlichen Verträge zeigt das Wort
in seiner ursprünglichen Bedeutung, die spätere fides salvifica ist
ein pis-aller. Charakteristischer Weise zeichnet sich auch im Sanskrit
das Wort craddha, der Glaube, durch schwankenden, farblosen Be-
griffskreis aus; es deutet bisweilen Frömmigkeit, bisweilen gute Werke
an, am ehesten fällt es mit der Definition des Glaubens nach der
heutigen katholischen Dogmatik zusammen, als Gehorsam gegen die
Lehrautorität der Kirche. Das ist Alles sehr blass im Vergleich
zum semitischen Glauben; man erhält den Eindruck, den jeder
forschende Blick über die Vorgänge der Geschichte bestätigen wird,
dass es sich hier um zwei verschiedene Dinge handelt. Sehr häufig
kann es ja vorkommen, dass eine Zunahme der Quantität die Qualität
völlig umwandelt;2) das scheint auch hier der Fall zu sein. Der echt
semitische Glaube kann durch nichts zerstört, durch nichts auch nur
angetastet werden, er widersteht jeder Erfahrung, jeder Evidenz. Hier
triumphiert der Wille, und zwar -- das merke man wohl, denn da
liegt der psychologische Kern der merkwürdigen Erscheinung --
triumphiert er nicht allein wegen seiner ungewöhnlichen Kraft, sondern
zugleich in Folge der Verkümmerung von Verstand und Phantasie:
einem Minimum von Religion gegenüber befindet sich ein Maximum
von unbedingter, unerschütterlicher Glaubensfähigkeit, eines Glaubens-
bedürfnisses, das wie eine gierige Hand sich ausstreckt und dem
Gläubigen, aber auch ihm persönlich und allein, mit Ausschluss jedes
Anderen, die ganze Welt zu eigen schenken will und muss. Charakte-
ristisch für den Absolutismus dieses "Glaubenswillens" (wenn ich das
Wort schmieden darf) ist es, dass ursprünglich jeder Stamm, jedes
Stämmchen der Semiten, seinen eigenen Gott hat; nie würde der
Semit mit einem Andern teilen wollen, sein Wille ist unbedingt, er
allein muss Alles besitzen; und so unbegrenzt wie sein Wille ist sein
Glaube; diese zwei Ausdrücke sind bei ihm fast synonym. Die
Religion erscheint gewissermassen nicht als um ihrer selbst willen da,
sondern als ein Mittel, als eine Handhabe, um das Gebiet des durch
den Willen zu Erreichenden möglichst erweitern zu können.3) Die

1) Das griechische pistis ebenfalls.
2) Siehe S. 61.
3) Dass die echten Wüstenbeduinen noch heute den kosmopolitischen Gott
des Korans in Wahrheit nicht anerkennen, wird von vielen Autoren bezeugt.
Robertson Smith: Religion of the Semites, p. 71, deutet an, der Mohammedanismus
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 26

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
gar nichts,1) die bona fides der rechtlichen Verträge zeigt das Wort
in seiner ursprünglichen Bedeutung, die spätere fides salvifica ist
ein pis-aller. Charakteristischer Weise zeichnet sich auch im Sanskrit
das Wort craddhâ, der Glaube, durch schwankenden, farblosen Be-
griffskreis aus; es deutet bisweilen Frömmigkeit, bisweilen gute Werke
an, am ehesten fällt es mit der Definition des Glaubens nach der
heutigen katholischen Dogmatik zusammen, als Gehorsam gegen die
Lehrautorität der Kirche. Das ist Alles sehr blass im Vergleich
zum semitischen Glauben; man erhält den Eindruck, den jeder
forschende Blick über die Vorgänge der Geschichte bestätigen wird,
dass es sich hier um zwei verschiedene Dinge handelt. Sehr häufig
kann es ja vorkommen, dass eine Zunahme der Quantität die Qualität
völlig umwandelt;2) das scheint auch hier der Fall zu sein. Der echt
semitische Glaube kann durch nichts zerstört, durch nichts auch nur
angetastet werden, er widersteht jeder Erfahrung, jeder Evidenz. Hier
triumphiert der Wille, und zwar — das merke man wohl, denn da
liegt der psychologische Kern der merkwürdigen Erscheinung —
triumphiert er nicht allein wegen seiner ungewöhnlichen Kraft, sondern
zugleich in Folge der Verkümmerung von Verstand und Phantasie:
einem Minimum von Religion gegenüber befindet sich ein Maximum
von unbedingter, unerschütterlicher Glaubensfähigkeit, eines Glaubens-
bedürfnisses, das wie eine gierige Hand sich ausstreckt und dem
Gläubigen, aber auch ihm persönlich und allein, mit Ausschluss jedes
Anderen, die ganze Welt zu eigen schenken will und muss. Charakte-
ristisch für den Absolutismus dieses »Glaubenswillens« (wenn ich das
Wort schmieden darf) ist es, dass ursprünglich jeder Stamm, jedes
Stämmchen der Semiten, seinen eigenen Gott hat; nie würde der
Semit mit einem Andern teilen wollen, sein Wille ist unbedingt, er
allein muss Alles besitzen; und so unbegrenzt wie sein Wille ist sein
Glaube; diese zwei Ausdrücke sind bei ihm fast synonym. Die
Religion erscheint gewissermassen nicht als um ihrer selbst willen da,
sondern als ein Mittel, als eine Handhabe, um das Gebiet des durch
den Willen zu Erreichenden möglichst erweitern zu können.3) Die

1) Das griechische πίστις ebenfalls.
2) Siehe S. 61.
3) Dass die echten Wüstenbeduinen noch heute den kosmopolitischen Gott
des Korans in Wahrheit nicht anerkennen, wird von vielen Autoren bezeugt.
Robertson Smith: Religion of the Semites, p. 71, deutet an, der Mohammedanismus
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 26
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[401/0424] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. gar nichts, 1) die bona fides der rechtlichen Verträge zeigt das Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung, die spätere fides salvifica ist ein pis-aller. Charakteristischer Weise zeichnet sich auch im Sanskrit das Wort craddhâ, der Glaube, durch schwankenden, farblosen Be- griffskreis aus; es deutet bisweilen Frömmigkeit, bisweilen gute Werke an, am ehesten fällt es mit der Definition des Glaubens nach der heutigen katholischen Dogmatik zusammen, als Gehorsam gegen die Lehrautorität der Kirche. Das ist Alles sehr blass im Vergleich zum semitischen Glauben; man erhält den Eindruck, den jeder forschende Blick über die Vorgänge der Geschichte bestätigen wird, dass es sich hier um zwei verschiedene Dinge handelt. Sehr häufig kann es ja vorkommen, dass eine Zunahme der Quantität die Qualität völlig umwandelt; 2) das scheint auch hier der Fall zu sein. Der echt semitische Glaube kann durch nichts zerstört, durch nichts auch nur angetastet werden, er widersteht jeder Erfahrung, jeder Evidenz. Hier triumphiert der Wille, und zwar — das merke man wohl, denn da liegt der psychologische Kern der merkwürdigen Erscheinung — triumphiert er nicht allein wegen seiner ungewöhnlichen Kraft, sondern zugleich in Folge der Verkümmerung von Verstand und Phantasie: einem Minimum von Religion gegenüber befindet sich ein Maximum von unbedingter, unerschütterlicher Glaubensfähigkeit, eines Glaubens- bedürfnisses, das wie eine gierige Hand sich ausstreckt und dem Gläubigen, aber auch ihm persönlich und allein, mit Ausschluss jedes Anderen, die ganze Welt zu eigen schenken will und muss. Charakte- ristisch für den Absolutismus dieses »Glaubenswillens« (wenn ich das Wort schmieden darf) ist es, dass ursprünglich jeder Stamm, jedes Stämmchen der Semiten, seinen eigenen Gott hat; nie würde der Semit mit einem Andern teilen wollen, sein Wille ist unbedingt, er allein muss Alles besitzen; und so unbegrenzt wie sein Wille ist sein Glaube; diese zwei Ausdrücke sind bei ihm fast synonym. Die Religion erscheint gewissermassen nicht als um ihrer selbst willen da, sondern als ein Mittel, als eine Handhabe, um das Gebiet des durch den Willen zu Erreichenden möglichst erweitern zu können. 3) Die 1) Das griechische πίστις ebenfalls. 2) Siehe S. 61. 3) Dass die echten Wüstenbeduinen noch heute den kosmopolitischen Gott des Korans in Wahrheit nicht anerkennen, wird von vielen Autoren bezeugt. Robertson Smith: Religion of the Semites, p. 71, deutet an, der Mohammedanismus Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 26

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/424>, abgerufen am 08.09.2024.