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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
durchaus unentbehrliche Minimum, jenes "Minimum an Religion", von
dem Renan sprach. Wo also semitischer Einfluss sich geltend macht,
sei es durch physische Vermengung (wie bei den Juden), sei es durch
die blosse Macht der Idee (wie im Christentum), werden wir diesen
beiden charakteristischen Bestrebungen begegnen. Beide kann man in
einem einzigen Wort zusammenfassen: Materialismus. Einer der
gewaltigsten Denker, die je gelebt, dessen Denken ausserdem eine
symbolische Plastizität besass, die beispiellos, selbst von Plato un-
erreicht dasteht, so dass seine Weltanschauung in mancher Beziehung
mit Religion verwandt erscheint, Schopenhauer, hat als Metaphysiker
den Satz aufgestellt: "die Materie ist die blosse Sichtbarkeit des
Willens .... was in der Erscheinung, d. h. für die Vorstellung,
Materie ist, das ist an sich selbst Wille."1) Ich will hier keine
Metaphysik treiben, auch nicht Schopenhauer's spekulative Symbolik
vertreten; auffallend aber ist es, wie auf dem Gebiete der rein
empirischen Psychologie ein analoges Verhältnis sich unentrinnbar
behauptet. Wo der Wille den fragenden Verstand und das phantasie-
reiche Gemüt geknechtet hat, da kann es keine andere Lebens-
anschauung und keine andere Weltanschauung geben, als die
materialistische. Ich gebrauche das Wort nicht in einem weg-
werfenden Sinne, ich leugne nicht die Vorteile des Materialismus,
ich bestreite nicht, dass er mit Moral vereinbar sei: ich konstatiere
einfach eine Thatsache. Unverfälschter Materialismus ist die religiöse
Lehre des Arabers Mohammed, ebensowohl die augenblicklichen
Vorgänge der Offenbarungen Gottes an ihn, wie sein Paradies mit
Essen und Trinken und schönen Houris; unverfälschter Materialismus
ist der Kontrakt, den Jakob mit Jahve (nach Gen. XXVIII 20--22)
eingeht, in welchem Jakob fünf Bedingungen, oder, wie der Jurist
sagen würde, Stipulationen festsetzt und dann schliesst: so du das
thust, sollst du mein Gott sein. Die ganze Schöpfungsgeschichte
der Genesis -- die in ähnlicher Fassung alle Hebräer, und, wie es
scheint, alle syrischen Semiten, sowie auch die babylonischen besassen --2)
ist reiner Materialismus; sie war es ursprünglich nicht, sondern war

1) Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Band, 2. Buch, Kap. 24. In gar
keinem Zusammenhang hiermit, doch immerhin interessant als eine Widerspiegelung
derselben Erkenntnis, ist die Lehre der Samkhya-Philosophie (des rationalistischen
Systems der brahmanischen Inder), wonach das Wollen keine geistige, sondern
eine physische Funktion sei! (vergl. Garbe: Die Samkhya-Philosophie, S. 251).
2) Vergl. die Berichte von Sanchuniathon und Berosus.

Die Erben.
durchaus unentbehrliche Minimum, jenes »Minimum an Religion«, von
dem Renan sprach. Wo also semitischer Einfluss sich geltend macht,
sei es durch physische Vermengung (wie bei den Juden), sei es durch
die blosse Macht der Idee (wie im Christentum), werden wir diesen
beiden charakteristischen Bestrebungen begegnen. Beide kann man in
einem einzigen Wort zusammenfassen: Materialismus. Einer der
gewaltigsten Denker, die je gelebt, dessen Denken ausserdem eine
symbolische Plastizität besass, die beispiellos, selbst von Plato un-
erreicht dasteht, so dass seine Weltanschauung in mancher Beziehung
mit Religion verwandt erscheint, Schopenhauer, hat als Metaphysiker
den Satz aufgestellt: »die Materie ist die blosse Sichtbarkeit des
Willens .... was in der Erscheinung, d. h. für die Vorstellung,
Materie ist, das ist an sich selbst Wille.«1) Ich will hier keine
Metaphysik treiben, auch nicht Schopenhauer’s spekulative Symbolik
vertreten; auffallend aber ist es, wie auf dem Gebiete der rein
empirischen Psychologie ein analoges Verhältnis sich unentrinnbar
behauptet. Wo der Wille den fragenden Verstand und das phantasie-
reiche Gemüt geknechtet hat, da kann es keine andere Lebens-
anschauung und keine andere Weltanschauung geben, als die
materialistische. Ich gebrauche das Wort nicht in einem weg-
werfenden Sinne, ich leugne nicht die Vorteile des Materialismus,
ich bestreite nicht, dass er mit Moral vereinbar sei: ich konstatiere
einfach eine Thatsache. Unverfälschter Materialismus ist die religiöse
Lehre des Arabers Mohammed, ebensowohl die augenblicklichen
Vorgänge der Offenbarungen Gottes an ihn, wie sein Paradies mit
Essen und Trinken und schönen Houris; unverfälschter Materialismus
ist der Kontrakt, den Jakob mit Jahve (nach Gen. XXVIII 20—22)
eingeht, in welchem Jakob fünf Bedingungen, oder, wie der Jurist
sagen würde, Stipulationen festsetzt und dann schliesst: so du das
thust, sollst du mein Gott sein. Die ganze Schöpfungsgeschichte
der Genesis — die in ähnlicher Fassung alle Hebräer, und, wie es
scheint, alle syrischen Semiten, sowie auch die babylonischen besassen —2)
ist reiner Materialismus; sie war es ursprünglich nicht, sondern war

1) Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Band, 2. Buch, Kap. 24. In gar
keinem Zusammenhang hiermit, doch immerhin interessant als eine Widerspiegelung
derselben Erkenntnis, ist die Lehre der Sâmkhya-Philosophie (des rationalistischen
Systems der brahmanischen Inder), wonach das Wollen keine geistige, sondern
eine physische Funktion sei! (vergl. Garbe: Die Sâmkhya-Philosophie, S. 251).
2) Vergl. die Berichte von Sanchuniathon und Berosus.
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[398/0421] Die Erben. durchaus unentbehrliche Minimum, jenes »Minimum an Religion«, von dem Renan sprach. Wo also semitischer Einfluss sich geltend macht, sei es durch physische Vermengung (wie bei den Juden), sei es durch die blosse Macht der Idee (wie im Christentum), werden wir diesen beiden charakteristischen Bestrebungen begegnen. Beide kann man in einem einzigen Wort zusammenfassen: Materialismus. Einer der gewaltigsten Denker, die je gelebt, dessen Denken ausserdem eine symbolische Plastizität besass, die beispiellos, selbst von Plato un- erreicht dasteht, so dass seine Weltanschauung in mancher Beziehung mit Religion verwandt erscheint, Schopenhauer, hat als Metaphysiker den Satz aufgestellt: »die Materie ist die blosse Sichtbarkeit des Willens .... was in der Erscheinung, d. h. für die Vorstellung, Materie ist, das ist an sich selbst Wille.« 1) Ich will hier keine Metaphysik treiben, auch nicht Schopenhauer’s spekulative Symbolik vertreten; auffallend aber ist es, wie auf dem Gebiete der rein empirischen Psychologie ein analoges Verhältnis sich unentrinnbar behauptet. Wo der Wille den fragenden Verstand und das phantasie- reiche Gemüt geknechtet hat, da kann es keine andere Lebens- anschauung und keine andere Weltanschauung geben, als die materialistische. Ich gebrauche das Wort nicht in einem weg- werfenden Sinne, ich leugne nicht die Vorteile des Materialismus, ich bestreite nicht, dass er mit Moral vereinbar sei: ich konstatiere einfach eine Thatsache. Unverfälschter Materialismus ist die religiöse Lehre des Arabers Mohammed, ebensowohl die augenblicklichen Vorgänge der Offenbarungen Gottes an ihn, wie sein Paradies mit Essen und Trinken und schönen Houris; unverfälschter Materialismus ist der Kontrakt, den Jakob mit Jahve (nach Gen. XXVIII 20—22) eingeht, in welchem Jakob fünf Bedingungen, oder, wie der Jurist sagen würde, Stipulationen festsetzt und dann schliesst: so du das thust, sollst du mein Gott sein. Die ganze Schöpfungsgeschichte der Genesis — die in ähnlicher Fassung alle Hebräer, und, wie es scheint, alle syrischen Semiten, sowie auch die babylonischen besassen — 2) ist reiner Materialismus; sie war es ursprünglich nicht, sondern war 1) Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Band, 2. Buch, Kap. 24. In gar keinem Zusammenhang hiermit, doch immerhin interessant als eine Widerspiegelung derselben Erkenntnis, ist die Lehre der Sâmkhya-Philosophie (des rationalistischen Systems der brahmanischen Inder), wonach das Wollen keine geistige, sondern eine physische Funktion sei! (vergl. Garbe: Die Sâmkhya-Philosophie, S. 251). 2) Vergl. die Berichte von Sanchuniathon und Berosus.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/421>, abgerufen am 07.09.2024.