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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
dieser Ausdruck komme ausnahmslos nur dort vor, wo "von vorauf-
gegangenen sichtbaren Erweisen gehandelt ist".1) Immer also handelt
es sich um äussere Erfahrung, nicht um innere; immer sind die Vor-
stellungen durchaus konkrete, materielle; wie Montefiore uns versichert,
selbst in der ausgebildeten jüdischen Religion giebt es nichts, was nicht
der dümmste Mensch sofort verstünde und bis auf den Boden ausdenken
könnte; sobald Einer ein Mysterium ahnt, sobald er z. B. in der
Schöpfungsgeschichte Symbolik vermutet, ist er ein Ketzer und ver-
fällt dem Henker;2) selbst die möglichst materialisierte Schöpfungs-
geschichte des Buches Genesis ist ein so offenbar fremdes, entlehntes
Gut, dass sie inmitten der israelitischen Tradition vollkommen isoliert
und ohne wirkliche Beziehung auf sie bleibt.3) Der Wille führt eben
den Verstand und die Phantasie an kurzen Ketten. Daher schlägt der
ungläubig gewordene Semit sofort in den Atheisten um; ein Geheimnis,
ein Mysterium gab es ja ohnehin nicht: ist nicht Allah der Schöpfer,
so ist es die Materie; als Welterklärung ist zwischen beiden Annahmen
kaum der Schatten eines Unterschiedes, denn bei keiner von beiden
fühlt sich der Semit in Gegenwart eines unlösbaren Rätsels, eines
übermenschlichen Geheimnisses.

Wollen wir aber den Einfluss semitischen Wesens auf die Re-
ligion überblicken, so dürfen wir nicht bloss von Verstehen und Nicht-
verstehen, von der Empfindung und der Nichtempfindung des Geheim-
nisses reden; des gestaltenden Einflusses der Phantasie, jener "allver-
schwisternden Himmelsgenossin" (wie Novalis sie nennt) muss eben-
falls gedacht werden. Die Phantasie ist die Magd der Religion,
sie ist die grosse Vermittlerin; geboren, wie Shakespeare sagt, aus der
Ehe des Kopfes und des Herzens, bewegt sie sich auf der Grenze des
Goetheschen "Doppelreiches" und setzt somit die eine Hälfte mit der
andern in Verbindung: ihre Gestalten bedeuten mehr als das blosse
Auge daran erblickt, ihre Worte künden mehr als das blosse Ohr
vernimmt. Sie vermag es nicht, das Unerschlossene zu erschliessen,
doch stellt sie die Maja vor uns hin und überzeugt unsere Augen,
dass ihr Schleier nicht gelüftet werden kann. Die Symbolik, als not-
wendige Sprache des unaussprechbaren Weltgeheimnisses, ist ihr Werk;

1) Philippson: Israelitische Religionslehre I, 35 fg.
2) Siehe z. B. in Graetz: Gnosticismus und Judentum, den Abschnitt über
Ben Soma.
3) Ausführlich behandelt von Renan: Langues semitiques, p. 482 suiv., siehe
auch die Anmerkung auf S. 485, und mein Citat aus Darmesteter S. 399, Anm. 2.

Die Erben.
dieser Ausdruck komme ausnahmslos nur dort vor, wo »von vorauf-
gegangenen sichtbaren Erweisen gehandelt ist«.1) Immer also handelt
es sich um äussere Erfahrung, nicht um innere; immer sind die Vor-
stellungen durchaus konkrete, materielle; wie Montefiore uns versichert,
selbst in der ausgebildeten jüdischen Religion giebt es nichts, was nicht
der dümmste Mensch sofort verstünde und bis auf den Boden ausdenken
könnte; sobald Einer ein Mysterium ahnt, sobald er z. B. in der
Schöpfungsgeschichte Symbolik vermutet, ist er ein Ketzer und ver-
fällt dem Henker;2) selbst die möglichst materialisierte Schöpfungs-
geschichte des Buches Genesis ist ein so offenbar fremdes, entlehntes
Gut, dass sie inmitten der israelitischen Tradition vollkommen isoliert
und ohne wirkliche Beziehung auf sie bleibt.3) Der Wille führt eben
den Verstand und die Phantasie an kurzen Ketten. Daher schlägt der
ungläubig gewordene Semit sofort in den Atheisten um; ein Geheimnis,
ein Mysterium gab es ja ohnehin nicht: ist nicht Allah der Schöpfer,
so ist es die Materie; als Welterklärung ist zwischen beiden Annahmen
kaum der Schatten eines Unterschiedes, denn bei keiner von beiden
fühlt sich der Semit in Gegenwart eines unlösbaren Rätsels, eines
übermenschlichen Geheimnisses.

Wollen wir aber den Einfluss semitischen Wesens auf die Re-
ligion überblicken, so dürfen wir nicht bloss von Verstehen und Nicht-
verstehen, von der Empfindung und der Nichtempfindung des Geheim-
nisses reden; des gestaltenden Einflusses der Phantasie, jener »allver-
schwisternden Himmelsgenossin« (wie Novalis sie nennt) muss eben-
falls gedacht werden. Die Phantasie ist die Magd der Religion,
sie ist die grosse Vermittlerin; geboren, wie Shakespeare sagt, aus der
Ehe des Kopfes und des Herzens, bewegt sie sich auf der Grenze des
Goetheschen »Doppelreiches« und setzt somit die eine Hälfte mit der
andern in Verbindung: ihre Gestalten bedeuten mehr als das blosse
Auge daran erblickt, ihre Worte künden mehr als das blosse Ohr
vernimmt. Sie vermag es nicht, das Unerschlossene zu erschliessen,
doch stellt sie die Maja vor uns hin und überzeugt unsere Augen,
dass ihr Schleier nicht gelüftet werden kann. Die Symbolik, als not-
wendige Sprache des unaussprechbaren Weltgeheimnisses, ist ihr Werk;

1) Philippson: Israelitische Religionslehre I, 35 fg.
2) Siehe z. B. in Graetz: Gnosticismus und Judentum, den Abschnitt über
Ben Soma.
3) Ausführlich behandelt von Renan: Langues sémitiques, p. 482 suiv., siehe
auch die Anmerkung auf S. 485, und mein Citat aus Darmesteter S. 399, Anm. 2.
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[394/0417] Die Erben. dieser Ausdruck komme ausnahmslos nur dort vor, wo »von vorauf- gegangenen sichtbaren Erweisen gehandelt ist«. 1) Immer also handelt es sich um äussere Erfahrung, nicht um innere; immer sind die Vor- stellungen durchaus konkrete, materielle; wie Montefiore uns versichert, selbst in der ausgebildeten jüdischen Religion giebt es nichts, was nicht der dümmste Mensch sofort verstünde und bis auf den Boden ausdenken könnte; sobald Einer ein Mysterium ahnt, sobald er z. B. in der Schöpfungsgeschichte Symbolik vermutet, ist er ein Ketzer und ver- fällt dem Henker; 2) selbst die möglichst materialisierte Schöpfungs- geschichte des Buches Genesis ist ein so offenbar fremdes, entlehntes Gut, dass sie inmitten der israelitischen Tradition vollkommen isoliert und ohne wirkliche Beziehung auf sie bleibt. 3) Der Wille führt eben den Verstand und die Phantasie an kurzen Ketten. Daher schlägt der ungläubig gewordene Semit sofort in den Atheisten um; ein Geheimnis, ein Mysterium gab es ja ohnehin nicht: ist nicht Allah der Schöpfer, so ist es die Materie; als Welterklärung ist zwischen beiden Annahmen kaum der Schatten eines Unterschiedes, denn bei keiner von beiden fühlt sich der Semit in Gegenwart eines unlösbaren Rätsels, eines übermenschlichen Geheimnisses. Wollen wir aber den Einfluss semitischen Wesens auf die Re- ligion überblicken, so dürfen wir nicht bloss von Verstehen und Nicht- verstehen, von der Empfindung und der Nichtempfindung des Geheim- nisses reden; des gestaltenden Einflusses der Phantasie, jener »allver- schwisternden Himmelsgenossin« (wie Novalis sie nennt) muss eben- falls gedacht werden. Die Phantasie ist die Magd der Religion, sie ist die grosse Vermittlerin; geboren, wie Shakespeare sagt, aus der Ehe des Kopfes und des Herzens, bewegt sie sich auf der Grenze des Goetheschen »Doppelreiches« und setzt somit die eine Hälfte mit der andern in Verbindung: ihre Gestalten bedeuten mehr als das blosse Auge daran erblickt, ihre Worte künden mehr als das blosse Ohr vernimmt. Sie vermag es nicht, das Unerschlossene zu erschliessen, doch stellt sie die Maja vor uns hin und überzeugt unsere Augen, dass ihr Schleier nicht gelüftet werden kann. Die Symbolik, als not- wendige Sprache des unaussprechbaren Weltgeheimnisses, ist ihr Werk; 1) Philippson: Israelitische Religionslehre I, 35 fg. 2) Siehe z. B. in Graetz: Gnosticismus und Judentum, den Abschnitt über Ben Soma. 3) Ausführlich behandelt von Renan: Langues sémitiques, p. 482 suiv., siehe auch die Anmerkung auf S. 485, und mein Citat aus Darmesteter S. 399, Anm. 2.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/417>, abgerufen am 24.11.2024.