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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
erwählte das tragische Schicksal: das beweist seine Grösse, und das
ist seine Grösse. Ich werde bald auf dieses Thema zurückzukommen
haben, denn dieser Entschluss bedeutet die Begründung des Juden-
tumes; nur das Eine will ich gleich hier sagen, denn es gehört hier-
her und wurde meines Wissens noch niemals gesagt: jenes tiefe Be-
wusstsein der Sünde, welches das jüdische Volk (in seinen heroischen
Tagen) so bedrückte1) und in den Worten seiner auserwählten Männer
ergreifenden Ausdruck fand, wurzelt in diesen physischen Ver-
hältnissen.
Natürlich legte es der Verstand und die uns allen an-
geborene Eitelkeit wesentlich anders aus; doch der Instinkt griff tiefer
als der Verstand, und sobald die Vertilgung der Israeliten und die eigene
Gefangennahme das Gewissen des Juden geweckt hatten, war seine erste
That, jener Blutschande (wie ich sie oben in wörtlicher Anlehnung an
Hesekiel nannte) ein Ende zu machen durch das strenge Verbot jeder
Vermischung, selbst mit nahverwandten Stämmen. Man hat einen
unerklärlichen Widerspruch darin gefunden, dass es die Juden sind,
welche in die heitere Welt die ewig drohende Vorstellung der Sünde
brachten, und dass sie dennoch unter Sünde etwas ganz anderes ver-
stehen als wir. Die Sünde ist nämlich für sie eine Nationalsache,
wogegen der Einzelne "gerecht" ist, wenn er das "Gesetz" nicht über-
tritt;2) "die Erlösung ist nicht die moralische Erlösung des Individuums,
sondern die Erlösung des Staates":3) das ist für unser Verständnis
schon eine Schwierigkeit. Dazu kommt aber eine andere, die unbe-
wusst
begangene Sünde gilt dem Juden einem bewussten Vergehen
ganz gleich:4) "der Begriff der Sünde hat für den Juden keine not-
wendige Beziehung zu dem Gewissen des Sünders, er schliesst nicht
die Vorstellung einer moralischen Schlechtigkeit ein, sondern deutet
auf eine gesetzliche Verantwortlichkeit".5) Montefiore erklärt auch

1) "Seit dem Exil wurde (bei den Juden) das Sündenbewusstsein gewisser-
massen permanent", sagt Wellhausen: Prolegomena, S. 431.
2) Siehe Matthäus XIX, 20. Die Äusserung des reichen Mannes billigt noch
heute der Jude Graetz vollkommen und bezeugt, die Aufforderung "die Sünden
zu bereuen" habe für den Juden "gar keinen Sinn". (Volkstümliche Geschichte
der Juden
, I, 577.)
3) W. Robertson Smith: The Prophets of Israel and their place in history,
Ausg. von 1895, S. 247.
4) idem, S. 102; Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, 2d ed., p. 558
(Anhang von Rabbi Schechter).
5) R. Smith, a. a. O., S. 103. Auch Montefiore bezeugt: "Sünde ist bei
den Hebräern jede Handlung, durch welche man im Unrechten sich befindet

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
erwählte das tragische Schicksal: das beweist seine Grösse, und das
ist seine Grösse. Ich werde bald auf dieses Thema zurückzukommen
haben, denn dieser Entschluss bedeutet die Begründung des Juden-
tumes; nur das Eine will ich gleich hier sagen, denn es gehört hier-
her und wurde meines Wissens noch niemals gesagt: jenes tiefe Be-
wusstsein der Sünde, welches das jüdische Volk (in seinen heroischen
Tagen) so bedrückte1) und in den Worten seiner auserwählten Männer
ergreifenden Ausdruck fand, wurzelt in diesen physischen Ver-
hältnissen.
Natürlich legte es der Verstand und die uns allen an-
geborene Eitelkeit wesentlich anders aus; doch der Instinkt griff tiefer
als der Verstand, und sobald die Vertilgung der Israeliten und die eigene
Gefangennahme das Gewissen des Juden geweckt hatten, war seine erste
That, jener Blutschande (wie ich sie oben in wörtlicher Anlehnung an
Hesekiel nannte) ein Ende zu machen durch das strenge Verbot jeder
Vermischung, selbst mit nahverwandten Stämmen. Man hat einen
unerklärlichen Widerspruch darin gefunden, dass es die Juden sind,
welche in die heitere Welt die ewig drohende Vorstellung der Sünde
brachten, und dass sie dennoch unter Sünde etwas ganz anderes ver-
stehen als wir. Die Sünde ist nämlich für sie eine Nationalsache,
wogegen der Einzelne »gerecht« ist, wenn er das »Gesetz« nicht über-
tritt;2) »die Erlösung ist nicht die moralische Erlösung des Individuums,
sondern die Erlösung des Staates«:3) das ist für unser Verständnis
schon eine Schwierigkeit. Dazu kommt aber eine andere, die unbe-
wusst
begangene Sünde gilt dem Juden einem bewussten Vergehen
ganz gleich:4) »der Begriff der Sünde hat für den Juden keine not-
wendige Beziehung zu dem Gewissen des Sünders, er schliesst nicht
die Vorstellung einer moralischen Schlechtigkeit ein, sondern deutet
auf eine gesetzliche Verantwortlichkeit«.5) Montefiore erklärt auch

1) »Seit dem Exil wurde (bei den Juden) das Sündenbewusstsein gewisser-
massen permanent«, sagt Wellhausen: Prolegomena, S. 431.
2) Siehe Matthäus XIX, 20. Die Äusserung des reichen Mannes billigt noch
heute der Jude Graetz vollkommen und bezeugt, die Aufforderung »die Sünden
zu bereuen« habe für den Juden »gar keinen Sinn«. (Volkstümliche Geschichte
der Juden
, I, 577.)
3) W. Robertson Smith: The Prophets of Israel and their place in history,
Ausg. von 1895, S. 247.
4) idem, S. 102; Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, 2d éd., p. 558
(Anhang von Rabbi Schechter).
5) R. Smith, a. a. O., S. 103. Auch Montefiore bezeugt: »Sünde ist bei
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[373/0396] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. erwählte das tragische Schicksal: das beweist seine Grösse, und das ist seine Grösse. Ich werde bald auf dieses Thema zurückzukommen haben, denn dieser Entschluss bedeutet die Begründung des Juden- tumes; nur das Eine will ich gleich hier sagen, denn es gehört hier- her und wurde meines Wissens noch niemals gesagt: jenes tiefe Be- wusstsein der Sünde, welches das jüdische Volk (in seinen heroischen Tagen) so bedrückte 1) und in den Worten seiner auserwählten Männer ergreifenden Ausdruck fand, wurzelt in diesen physischen Ver- hältnissen. Natürlich legte es der Verstand und die uns allen an- geborene Eitelkeit wesentlich anders aus; doch der Instinkt griff tiefer als der Verstand, und sobald die Vertilgung der Israeliten und die eigene Gefangennahme das Gewissen des Juden geweckt hatten, war seine erste That, jener Blutschande (wie ich sie oben in wörtlicher Anlehnung an Hesekiel nannte) ein Ende zu machen durch das strenge Verbot jeder Vermischung, selbst mit nahverwandten Stämmen. Man hat einen unerklärlichen Widerspruch darin gefunden, dass es die Juden sind, welche in die heitere Welt die ewig drohende Vorstellung der Sünde brachten, und dass sie dennoch unter Sünde etwas ganz anderes ver- stehen als wir. Die Sünde ist nämlich für sie eine Nationalsache, wogegen der Einzelne »gerecht« ist, wenn er das »Gesetz« nicht über- tritt; 2) »die Erlösung ist nicht die moralische Erlösung des Individuums, sondern die Erlösung des Staates«: 3) das ist für unser Verständnis schon eine Schwierigkeit. Dazu kommt aber eine andere, die unbe- wusst begangene Sünde gilt dem Juden einem bewussten Vergehen ganz gleich: 4) »der Begriff der Sünde hat für den Juden keine not- wendige Beziehung zu dem Gewissen des Sünders, er schliesst nicht die Vorstellung einer moralischen Schlechtigkeit ein, sondern deutet auf eine gesetzliche Verantwortlichkeit«. 5) Montefiore erklärt auch 1) »Seit dem Exil wurde (bei den Juden) das Sündenbewusstsein gewisser- massen permanent«, sagt Wellhausen: Prolegomena, S. 431. 2) Siehe Matthäus XIX, 20. Die Äusserung des reichen Mannes billigt noch heute der Jude Graetz vollkommen und bezeugt, die Aufforderung »die Sünden zu bereuen« habe für den Juden »gar keinen Sinn«. (Volkstümliche Geschichte der Juden, I, 577.) 3) W. Robertson Smith: The Prophets of Israel and their place in history, Ausg. von 1895, S. 247. 4) idem, S. 102; Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, 2d éd., p. 558 (Anhang von Rabbi Schechter). 5) R. Smith, a. a. O., S. 103. Auch Montefiore bezeugt: »Sünde ist bei den Hebräern jede Handlung, durch welche man im Unrechten sich befindet

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/396>, abgerufen am 05.09.2024.