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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
Werk einer gleichfalls durch grosse Massen bewirkten, doch friedlicheren
Semitisierung erblicken wir in den grossen Kulturstaaten zwischen Tigris
und Euphrat. Dort nämlich, wo, wie im Babylonischen Akkadien,
die Semiten einer fertigen, starken, wehrhaften Kulturwelt begegneten,
überwanden sie sie dadurch, dass sie mit ihr verschmolzen, ein Vor-
gang, den man jetzt für Babylonien fast Schritt für Schritt verfolgen
kann.1) Dagegen wanderten die Beni Israel als einfache Hirten in
kleinen Gruppen aus und mussten, um ihren Viehstand zu behaupten,
jedem kriegerischen Unternehmen, für das ihre kleine Zahl sie ohne-
hin untüchtig gemacht hätte, sorglich ausweichen. -- Natürlich giebt
uns der biblische Bericht über die frühesten Wanderungen dieser
Beduinenfamilie nur den matten Widerschein uralter mündlicher
Traditionen, dazu vielfach gefälscht durch die Missverständnisse,
Theorien und Absichten der spätgeborenen Skribenten; doch hat man
keinen Grund die Richtigkeit der allgemeinen Angaben zu bezweifeln,
und zwar um so weniger, als sie nichts Unwahrscheinliches enthalten.
Freilich ist Alles in starker Verkürzung gesehen: ganze Familien sind
zu einer einzigen Person verschmolzen (ein allgemeiner semitischer
Brauch, "desgleichen es nur bei den Semiten gibt", sagt Wellhausen);
andere angebliche Vorahnen sind einfach die Namen der Ortschaften
in deren Nähe sich die Israeliten lange Zeit aufgehalten hatten; Be-
wegungen, welche das Leben mehrerer Geschlechter in Anspruch
nahmen, werden von einem Einzelnen ausgeführt. Dieses Bedürfnis
nach Vereinfachung des Vielfältigen, nach Zusammendrängung des
Auseinanderliegenden ist dem Volke eben so angeboren wie dem be-
wusst schaffenden Poeten. So lässt die Bibel z. B. Abraham als schon
verheirateten Mann aus der Gegend von Ur, am untersten Laufe des
Euphrat, bis in das nördliche Mesopotamien, am Fusse des armenischen
Berglandes auswandern, in jenes Paddan-Aram, von dem das Buch
Genesis so häufig redet und das jenseits des Euphrat, zwischen diesem

verwüsteten. Immense Reiche, die im Jahre 1880 dicht bevölkert und über und
über bebaut waren, sind inzwischen eine Wüstenei geworden. Von einem einzigen
Araberhäuptling behauptet Stanley, er habe ein Gebiet von 2000 Quadratmeilen
verwüstet! (Siehe die Bücher von Stanley, Wissmann, Hinde u. s. w. und die
kurze Zusammenfassung in Ratzel: Völkerkunde, 2. Aufl., II, 430. Vergl. auch
oben das Kapitel "Römisches Recht", S. 140 Anm.)
1) Über den verschwundenen Menschentypus der Akkadier oder Sumerier,
der Schöpfer der grossartigen Babylonischen Kultur, und über ihre allmähliche
Semitisierung, siehe Hommel, Sayce, Budge, Maspero.

Die Erben.
Werk einer gleichfalls durch grosse Massen bewirkten, doch friedlicheren
Semitisierung erblicken wir in den grossen Kulturstaaten zwischen Tigris
und Euphrat. Dort nämlich, wo, wie im Babylonischen Akkadien,
die Semiten einer fertigen, starken, wehrhaften Kulturwelt begegneten,
überwanden sie sie dadurch, dass sie mit ihr verschmolzen, ein Vor-
gang, den man jetzt für Babylonien fast Schritt für Schritt verfolgen
kann.1) Dagegen wanderten die Beni Israel als einfache Hirten in
kleinen Gruppen aus und mussten, um ihren Viehstand zu behaupten,
jedem kriegerischen Unternehmen, für das ihre kleine Zahl sie ohne-
hin untüchtig gemacht hätte, sorglich ausweichen. — Natürlich giebt
uns der biblische Bericht über die frühesten Wanderungen dieser
Beduinenfamilie nur den matten Widerschein uralter mündlicher
Traditionen, dazu vielfach gefälscht durch die Missverständnisse,
Theorien und Absichten der spätgeborenen Skribenten; doch hat man
keinen Grund die Richtigkeit der allgemeinen Angaben zu bezweifeln,
und zwar um so weniger, als sie nichts Unwahrscheinliches enthalten.
Freilich ist Alles in starker Verkürzung gesehen: ganze Familien sind
zu einer einzigen Person verschmolzen (ein allgemeiner semitischer
Brauch, »desgleichen es nur bei den Semiten gibt«, sagt Wellhausen);
andere angebliche Vorahnen sind einfach die Namen der Ortschaften
in deren Nähe sich die Israeliten lange Zeit aufgehalten hatten; Be-
wegungen, welche das Leben mehrerer Geschlechter in Anspruch
nahmen, werden von einem Einzelnen ausgeführt. Dieses Bedürfnis
nach Vereinfachung des Vielfältigen, nach Zusammendrängung des
Auseinanderliegenden ist dem Volke eben so angeboren wie dem be-
wusst schaffenden Poeten. So lässt die Bibel z. B. Abraham als schon
verheirateten Mann aus der Gegend von Ur, am untersten Laufe des
Euphrat, bis in das nördliche Mesopotamien, am Fusse des armenischen
Berglandes auswandern, in jenes Paddan-Aram, von dem das Buch
Genesis so häufig redet und das jenseits des Euphrat, zwischen diesem

verwüsteten. Immense Reiche, die im Jahre 1880 dicht bevölkert und über und
über bebaut waren, sind inzwischen eine Wüstenei geworden. Von einem einzigen
Araberhäuptling behauptet Stanley, er habe ein Gebiet von 2000 Quadratmeilen
verwüstet! (Siehe die Bücher von Stanley, Wissmann, Hinde u. s. w. und die
kurze Zusammenfassung in Ratzel: Völkerkunde, 2. Aufl., II, 430. Vergl. auch
oben das Kapitel »Römisches Recht«, S. 140 Anm.)
1) Über den verschwundenen Menschentypus der Akkadier oder Sumerier,
der Schöpfer der grossartigen Babylonischen Kultur, und über ihre allmähliche
Semitisierung, siehe Hommel, Sayce, Budge, Maspero.
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[350/0373] Die Erben. Werk einer gleichfalls durch grosse Massen bewirkten, doch friedlicheren Semitisierung erblicken wir in den grossen Kulturstaaten zwischen Tigris und Euphrat. Dort nämlich, wo, wie im Babylonischen Akkadien, die Semiten einer fertigen, starken, wehrhaften Kulturwelt begegneten, überwanden sie sie dadurch, dass sie mit ihr verschmolzen, ein Vor- gang, den man jetzt für Babylonien fast Schritt für Schritt verfolgen kann. 1) Dagegen wanderten die Beni Israel als einfache Hirten in kleinen Gruppen aus und mussten, um ihren Viehstand zu behaupten, jedem kriegerischen Unternehmen, für das ihre kleine Zahl sie ohne- hin untüchtig gemacht hätte, sorglich ausweichen. — Natürlich giebt uns der biblische Bericht über die frühesten Wanderungen dieser Beduinenfamilie nur den matten Widerschein uralter mündlicher Traditionen, dazu vielfach gefälscht durch die Missverständnisse, Theorien und Absichten der spätgeborenen Skribenten; doch hat man keinen Grund die Richtigkeit der allgemeinen Angaben zu bezweifeln, und zwar um so weniger, als sie nichts Unwahrscheinliches enthalten. Freilich ist Alles in starker Verkürzung gesehen: ganze Familien sind zu einer einzigen Person verschmolzen (ein allgemeiner semitischer Brauch, »desgleichen es nur bei den Semiten gibt«, sagt Wellhausen); andere angebliche Vorahnen sind einfach die Namen der Ortschaften in deren Nähe sich die Israeliten lange Zeit aufgehalten hatten; Be- wegungen, welche das Leben mehrerer Geschlechter in Anspruch nahmen, werden von einem Einzelnen ausgeführt. Dieses Bedürfnis nach Vereinfachung des Vielfältigen, nach Zusammendrängung des Auseinanderliegenden ist dem Volke eben so angeboren wie dem be- wusst schaffenden Poeten. So lässt die Bibel z. B. Abraham als schon verheirateten Mann aus der Gegend von Ur, am untersten Laufe des Euphrat, bis in das nördliche Mesopotamien, am Fusse des armenischen Berglandes auswandern, in jenes Paddan-Aram, von dem das Buch Genesis so häufig redet und das jenseits des Euphrat, zwischen diesem 2) 1) Über den verschwundenen Menschentypus der Akkadier oder Sumerier, der Schöpfer der grossartigen Babylonischen Kultur, und über ihre allmähliche Semitisierung, siehe Hommel, Sayce, Budge, Maspero. 2) verwüsteten. Immense Reiche, die im Jahre 1880 dicht bevölkert und über und über bebaut waren, sind inzwischen eine Wüstenei geworden. Von einem einzigen Araberhäuptling behauptet Stanley, er habe ein Gebiet von 2000 Quadratmeilen verwüstet! (Siehe die Bücher von Stanley, Wissmann, Hinde u. s. w. und die kurze Zusammenfassung in Ratzel: Völkerkunde, 2. Aufl., II, 430. Vergl. auch oben das Kapitel »Römisches Recht«, S. 140 Anm.)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/373>, abgerufen am 28.11.2024.