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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.

Ist auch der Begriff "Semit", insofern man darin eine von Ur-
anfang existierende, reine, autonome Rasse, gleichsam eine besondere
Schöpfung Gottes erblicken will, gewiss ein pures Gedankending, so
steht es doch um diesen Begriff besser als um den des "Ariers",
denn es lebt noch heute, unter unseren Augen, ein Volk, welches
angeblich den reinen, ungetrübten Typus des Ursemiten darstellt:
der Wüstenbeduin Arabiens.1) Lassen wir den luftigen Ursemiten
und halten wir uns an den Beduinen in Fleisch und Blut. Man nimmt
an und man hat guten Grund zu dieser Annahme, dass, schon etliche
Jahrtausende vor Christus, Menschen, den heutigen Wüstenbeduinen
äusserst ähnlich, in einem fast ununterbrochenen Flusse von Arabien
nach Osten und Norden in das Zweistromland auswanderten. Arabien
ist gesund, daher vermehrt sich seine Bevölkerung; sein Boden ist
äusserst arm, daher muss ein Teil seiner Einwohner an anderem
Orte seine Nahrung suchen. Es scheint, als wären diese Exodien bis-
weilen von grossen bewaffneten Mengen unternommen worden: der
angestaute Menschenüberfluss wurde in solchen Fällen mit unüber-
windlicher Macht aus der Heimat hinausgeschleudert und fiel erobernd
in die benachbarten Länder ein; in anderen Fällen dagegen wanderten
einzelne Sippen mit ihren Herden so friedlich wie möglich über die
nirgends genau bestimmte Grenze von einem Weideplatz zum andern:
bogen sie nicht, wie manche von ihnen thaten, bald nach Westen
ab, so konnte es geschehen, dass sie bis an den Euphrat gelangten
und, nach und nach, dem Strome folgend, bis hoch in den Norden
hinauf. Von der vorerwähnten gewaltsamen Art, sich des Überschusses
der Bevölkerung zu entladen, kennen wir denkwürdige Beispiele aus
historischen Zeiten (unter den Römern und nach Mohammed);2) das

1) Dies scheint einstimmig von allen Autoren behauptet zu werden. Burck-
hardt habe ich im weiteren Verlaufe des Kapitels angeführt. Hier will ich mich
einzig auf eine neuere und allseitig anerkannte Autorität berufen: William Robertson
Smith. In seinem Religion of the Semites (ed. 1894, S. 8.) sagt er: "Es kann als
sicher angenommen werden, dass die Araber der Wüste seit unvordenklichen
Zeiten eine ungemischte Rasse bilden." Zugleich macht derselbe Autor darauf
aufmerksam, wie unzulässig es sei, die Babylonier, Phönicier u. s. w. kurzweg als
"Semiten" zu bezeichnen, da zunächst lediglich die Verwandtschaft der Sprachen
feststehe, alle diese sogenannten "semitischen Nationen" aber aus einer starken
Blutmischung hervorgegangen wären.
2) Das letzte Beispiel bot uns das Ende unseres eigenen Jahrhunderts, wo
die Araber, die von jeher nicht allein nach Norden und Osten, sondern ebenfalls
nach Westen und Süden ausgezogen waren, einen grossen Teil Innerafrikas gänzlich
Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.

Ist auch der Begriff »Semit«, insofern man darin eine von Ur-
anfang existierende, reine, autonome Rasse, gleichsam eine besondere
Schöpfung Gottes erblicken will, gewiss ein pures Gedankending, so
steht es doch um diesen Begriff besser als um den des »Ariers«,
denn es lebt noch heute, unter unseren Augen, ein Volk, welches
angeblich den reinen, ungetrübten Typus des Ursemiten darstellt:
der Wüstenbeduin Arabiens.1) Lassen wir den luftigen Ursemiten
und halten wir uns an den Beduinen in Fleisch und Blut. Man nimmt
an und man hat guten Grund zu dieser Annahme, dass, schon etliche
Jahrtausende vor Christus, Menschen, den heutigen Wüstenbeduinen
äusserst ähnlich, in einem fast ununterbrochenen Flusse von Arabien
nach Osten und Norden in das Zweistromland auswanderten. Arabien
ist gesund, daher vermehrt sich seine Bevölkerung; sein Boden ist
äusserst arm, daher muss ein Teil seiner Einwohner an anderem
Orte seine Nahrung suchen. Es scheint, als wären diese Exodien bis-
weilen von grossen bewaffneten Mengen unternommen worden: der
angestaute Menschenüberfluss wurde in solchen Fällen mit unüber-
windlicher Macht aus der Heimat hinausgeschleudert und fiel erobernd
in die benachbarten Länder ein; in anderen Fällen dagegen wanderten
einzelne Sippen mit ihren Herden so friedlich wie möglich über die
nirgends genau bestimmte Grenze von einem Weideplatz zum andern:
bogen sie nicht, wie manche von ihnen thaten, bald nach Westen
ab, so konnte es geschehen, dass sie bis an den Euphrat gelangten
und, nach und nach, dem Strome folgend, bis hoch in den Norden
hinauf. Von der vorerwähnten gewaltsamen Art, sich des Überschusses
der Bevölkerung zu entladen, kennen wir denkwürdige Beispiele aus
historischen Zeiten (unter den Römern und nach Mohammed);2) das

1) Dies scheint einstimmig von allen Autoren behauptet zu werden. Burck-
hardt habe ich im weiteren Verlaufe des Kapitels angeführt. Hier will ich mich
einzig auf eine neuere und allseitig anerkannte Autorität berufen: William Robertson
Smith. In seinem Religion of the Semites (ed. 1894, S. 8.) sagt er: »Es kann als
sicher angenommen werden, dass die Araber der Wüste seit unvordenklichen
Zeiten eine ungemischte Rasse bilden.« Zugleich macht derselbe Autor darauf
aufmerksam, wie unzulässig es sei, die Babylonier, Phönicier u. s. w. kurzweg als
»Semiten« zu bezeichnen, da zunächst lediglich die Verwandtschaft der Sprachen
feststehe, alle diese sogenannten »semitischen Nationen« aber aus einer starken
Blutmischung hervorgegangen wären.
2) Das letzte Beispiel bot uns das Ende unseres eigenen Jahrhunderts, wo
die Araber, die von jeher nicht allein nach Norden und Osten, sondern ebenfalls
nach Westen und Süden ausgezogen waren, einen grossen Teil Innerafrikas gänzlich
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[349/0372] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. Ist auch der Begriff »Semit«, insofern man darin eine von Ur- anfang existierende, reine, autonome Rasse, gleichsam eine besondere Schöpfung Gottes erblicken will, gewiss ein pures Gedankending, so steht es doch um diesen Begriff besser als um den des »Ariers«, denn es lebt noch heute, unter unseren Augen, ein Volk, welches angeblich den reinen, ungetrübten Typus des Ursemiten darstellt: der Wüstenbeduin Arabiens. 1) Lassen wir den luftigen Ursemiten und halten wir uns an den Beduinen in Fleisch und Blut. Man nimmt an und man hat guten Grund zu dieser Annahme, dass, schon etliche Jahrtausende vor Christus, Menschen, den heutigen Wüstenbeduinen äusserst ähnlich, in einem fast ununterbrochenen Flusse von Arabien nach Osten und Norden in das Zweistromland auswanderten. Arabien ist gesund, daher vermehrt sich seine Bevölkerung; sein Boden ist äusserst arm, daher muss ein Teil seiner Einwohner an anderem Orte seine Nahrung suchen. Es scheint, als wären diese Exodien bis- weilen von grossen bewaffneten Mengen unternommen worden: der angestaute Menschenüberfluss wurde in solchen Fällen mit unüber- windlicher Macht aus der Heimat hinausgeschleudert und fiel erobernd in die benachbarten Länder ein; in anderen Fällen dagegen wanderten einzelne Sippen mit ihren Herden so friedlich wie möglich über die nirgends genau bestimmte Grenze von einem Weideplatz zum andern: bogen sie nicht, wie manche von ihnen thaten, bald nach Westen ab, so konnte es geschehen, dass sie bis an den Euphrat gelangten und, nach und nach, dem Strome folgend, bis hoch in den Norden hinauf. Von der vorerwähnten gewaltsamen Art, sich des Überschusses der Bevölkerung zu entladen, kennen wir denkwürdige Beispiele aus historischen Zeiten (unter den Römern und nach Mohammed); 2) das 1) Dies scheint einstimmig von allen Autoren behauptet zu werden. Burck- hardt habe ich im weiteren Verlaufe des Kapitels angeführt. Hier will ich mich einzig auf eine neuere und allseitig anerkannte Autorität berufen: William Robertson Smith. In seinem Religion of the Semites (ed. 1894, S. 8.) sagt er: »Es kann als sicher angenommen werden, dass die Araber der Wüste seit unvordenklichen Zeiten eine ungemischte Rasse bilden.« Zugleich macht derselbe Autor darauf aufmerksam, wie unzulässig es sei, die Babylonier, Phönicier u. s. w. kurzweg als »Semiten« zu bezeichnen, da zunächst lediglich die Verwandtschaft der Sprachen feststehe, alle diese sogenannten »semitischen Nationen« aber aus einer starken Blutmischung hervorgegangen wären. 2) Das letzte Beispiel bot uns das Ende unseres eigenen Jahrhunderts, wo die Araber, die von jeher nicht allein nach Norden und Osten, sondern ebenfalls nach Westen und Süden ausgezogen waren, einen grossen Teil Innerafrikas gänzlich

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/372>, abgerufen am 24.11.2024.