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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
nicht, das ist sicher; können wir hoffen, ihn zu verstehen, ihm gerecht
zu werden? Vielleicht; wenn wir ihm nämlich in der That geistig
und moralisch überlegen sind, wie Renan in der vorhin angeführten
Stelle behauptete und wie andere, vielleicht zuverlässigere Gelehrte
ebenfalls gemeint haben.1) Wir müssten ihn aber dann wirklich
auch von der Höhe unserer Überlegenheit aus beurteilen, nicht aus
den Niederungen des Hasses und des Aberglaubens, noch weniger
aus den Sümpfen des Missverständnisses, in denen unsere Religions-
lehrer seit 2000 Jahren herumwaten. Dem Juden Gedanken zu-
schreiben, die er niemals gedacht, ihn als den Träger der gross-
artigsten religiösen Intuitionen verherrlichen, die ihm ferner als vielleicht
irgend welchen Menschen auf Erden lagen und im allerbesten Falle
nur hier und dort als ein Schrei der Empörung gegen die besondere
Gemütshärte dieses Volkes in dem Herzen Vereinzelter sich regten --
und ihn dann dafür verdammen, dass er heute so ganz anders ist,
als er nach diesen Erdichtungen sein sollte, das ist doch offenbar un-
gerecht. Es ist nicht allein ungerecht, sondern für das öffentliche
Gefühl bedauerlich irreleitend; denn durch das Verhältnis zu unserem
religiösen Leben, welches wir dem Juden angedichtet haben, erscheint
sein Haupt in einer Art Glorienschein, und wir sind dann höchlich
empört, wenn aus dieser aureole postiche kein Heiliger uns ent-
gegentritt. Wir stellen höhere Ansprüche an den Juden als an uns
selber, blosse Heidensöhne. Da ist doch das jüdische Zeugnis ganz
anders zutreffend; es spannt die Erwartungen so wenig hoch, dass
wir über jeden edlen Zug, den wir später entdecken, über jede Er-
klärung, die wir für jüdische Gebrechen finden, uns aufrichtig freuen.
Jahve zum Beispiel wird nicht müde zu erklären: "Ich sehe, dass
dies Volk ein halsstarriges Volk ist",2) und Jeremia giebt von der
moralischen Beschaffenheit der Juden eine Charakterisierung, wie sie
Monsieur Edouard Drumont nicht farbenreicher wünschen könnte:
"Ein Freund täuscht den andern und redet kein wahres Wort; sie
fleissigen sich darauf, wie Einer den Anderen betrüge, und ist ihnen
leid, dass sie es nicht ärger machen können".3) Kein Wunder,

1) Siehe namentlich die berühmte Stelle in Lassen's: Indische Altertumskunde,
wo der grosse Orientalist seine Überzeugung, dass die indoeuropäische Rasse "höher
und vollständiger begabt", dass in ihr allein "das harmonische Gleichmass aller
Seelenkräfte" ausgebildet sei, ausführlich begründet. (I, 414, Ausgabe des Jahres 1847.)
2) 2 Mose XXXII, 9, XXXIV, 9, 5 Mose IX, 13 u. s. w.
3) IX, 5.

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
nicht, das ist sicher; können wir hoffen, ihn zu verstehen, ihm gerecht
zu werden? Vielleicht; wenn wir ihm nämlich in der That geistig
und moralisch überlegen sind, wie Renan in der vorhin angeführten
Stelle behauptete und wie andere, vielleicht zuverlässigere Gelehrte
ebenfalls gemeint haben.1) Wir müssten ihn aber dann wirklich
auch von der Höhe unserer Überlegenheit aus beurteilen, nicht aus
den Niederungen des Hasses und des Aberglaubens, noch weniger
aus den Sümpfen des Missverständnisses, in denen unsere Religions-
lehrer seit 2000 Jahren herumwaten. Dem Juden Gedanken zu-
schreiben, die er niemals gedacht, ihn als den Träger der gross-
artigsten religiösen Intuitionen verherrlichen, die ihm ferner als vielleicht
irgend welchen Menschen auf Erden lagen und im allerbesten Falle
nur hier und dort als ein Schrei der Empörung gegen die besondere
Gemütshärte dieses Volkes in dem Herzen Vereinzelter sich regten —
und ihn dann dafür verdammen, dass er heute so ganz anders ist,
als er nach diesen Erdichtungen sein sollte, das ist doch offenbar un-
gerecht. Es ist nicht allein ungerecht, sondern für das öffentliche
Gefühl bedauerlich irreleitend; denn durch das Verhältnis zu unserem
religiösen Leben, welches wir dem Juden angedichtet haben, erscheint
sein Haupt in einer Art Glorienschein, und wir sind dann höchlich
empört, wenn aus dieser auréole postiche kein Heiliger uns ent-
gegentritt. Wir stellen höhere Ansprüche an den Juden als an uns
selber, blosse Heidensöhne. Da ist doch das jüdische Zeugnis ganz
anders zutreffend; es spannt die Erwartungen so wenig hoch, dass
wir über jeden edlen Zug, den wir später entdecken, über jede Er-
klärung, die wir für jüdische Gebrechen finden, uns aufrichtig freuen.
Jahve zum Beispiel wird nicht müde zu erklären: »Ich sehe, dass
dies Volk ein halsstarriges Volk ist«,2) und Jeremia giebt von der
moralischen Beschaffenheit der Juden eine Charakterisierung, wie sie
Monsieur Édouard Drumont nicht farbenreicher wünschen könnte:
»Ein Freund täuscht den andern und redet kein wahres Wort; sie
fleissigen sich darauf, wie Einer den Anderen betrüge, und ist ihnen
leid, dass sie es nicht ärger machen können«.3) Kein Wunder,

1) Siehe namentlich die berühmte Stelle in Lassen’s: Indische Altertumskunde,
wo der grosse Orientalist seine Überzeugung, dass die indoeuropäische Rasse »höher
und vollständiger begabt«, dass in ihr allein »das harmonische Gleichmass aller
Seelenkräfte« ausgebildet sei, ausführlich begründet. (I, 414, Ausgabe des Jahres 1847.)
2) 2 Mose XXXII, 9, XXXIV, 9, 5 Mose IX, 13 u. s. w.
3) IX, 5.
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[331/0354] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. nicht, das ist sicher; können wir hoffen, ihn zu verstehen, ihm gerecht zu werden? Vielleicht; wenn wir ihm nämlich in der That geistig und moralisch überlegen sind, wie Renan in der vorhin angeführten Stelle behauptete und wie andere, vielleicht zuverlässigere Gelehrte ebenfalls gemeint haben. 1) Wir müssten ihn aber dann wirklich auch von der Höhe unserer Überlegenheit aus beurteilen, nicht aus den Niederungen des Hasses und des Aberglaubens, noch weniger aus den Sümpfen des Missverständnisses, in denen unsere Religions- lehrer seit 2000 Jahren herumwaten. Dem Juden Gedanken zu- schreiben, die er niemals gedacht, ihn als den Träger der gross- artigsten religiösen Intuitionen verherrlichen, die ihm ferner als vielleicht irgend welchen Menschen auf Erden lagen und im allerbesten Falle nur hier und dort als ein Schrei der Empörung gegen die besondere Gemütshärte dieses Volkes in dem Herzen Vereinzelter sich regten — und ihn dann dafür verdammen, dass er heute so ganz anders ist, als er nach diesen Erdichtungen sein sollte, das ist doch offenbar un- gerecht. Es ist nicht allein ungerecht, sondern für das öffentliche Gefühl bedauerlich irreleitend; denn durch das Verhältnis zu unserem religiösen Leben, welches wir dem Juden angedichtet haben, erscheint sein Haupt in einer Art Glorienschein, und wir sind dann höchlich empört, wenn aus dieser auréole postiche kein Heiliger uns ent- gegentritt. Wir stellen höhere Ansprüche an den Juden als an uns selber, blosse Heidensöhne. Da ist doch das jüdische Zeugnis ganz anders zutreffend; es spannt die Erwartungen so wenig hoch, dass wir über jeden edlen Zug, den wir später entdecken, über jede Er- klärung, die wir für jüdische Gebrechen finden, uns aufrichtig freuen. Jahve zum Beispiel wird nicht müde zu erklären: »Ich sehe, dass dies Volk ein halsstarriges Volk ist«, 2) und Jeremia giebt von der moralischen Beschaffenheit der Juden eine Charakterisierung, wie sie Monsieur Édouard Drumont nicht farbenreicher wünschen könnte: »Ein Freund täuscht den andern und redet kein wahres Wort; sie fleissigen sich darauf, wie Einer den Anderen betrüge, und ist ihnen leid, dass sie es nicht ärger machen können«. 3) Kein Wunder, 1) Siehe namentlich die berühmte Stelle in Lassen’s: Indische Altertumskunde, wo der grosse Orientalist seine Überzeugung, dass die indoeuropäische Rasse »höher und vollständiger begabt«, dass in ihr allein »das harmonische Gleichmass aller Seelenkräfte« ausgebildet sei, ausführlich begründet. (I, 414, Ausgabe des Jahres 1847.) 2) 2 Mose XXXII, 9, XXXIV, 9, 5 Mose IX, 13 u. s. w. 3) IX, 5.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/354>, abgerufen am 28.07.2024.