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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Allgemeine Einleitung.
auch die Hoffnung auf Besseres. Der Blick zurück berechtigt in der
That zu grossen Hoffnungen. Und, ich wiederhole es, forscht dieser
Blick, wo der erste Schimmer dieser Hoffnungsstrahlen deutlich be-
merkbar wird, so findet er die Zeit um das Jahr 1200 herum. In
Italien hatte schon im 11. Jahrhundert die städtische Bewegung be-
gonnen, jene Bewegung, welche zugleich die Hebung von Handel
und Industrie und die Gewährung weitgehender Freiheitsrechte an
ganze Klassen der Bevölkerung, die bisher unter der zwiefachen Knecht-
schaft von Kirche und Staat geschmachtet hatten, erstrebte; im 12. Jahr-
hundert war dieses Erstarken des Kernes der europäischen Be-
völkerung an Ausdehnung und Kraft dermassen gewachsen, dass
zu Beginn des 13. die mächtige Hansa und der rheinische Städte-
bund gegründet werden konnten. Über diese Bewegung schreibt
Ranke (Weltgeschichte IV, 238): "Es ist eine prächtige, lebensvolle
Entwickelung, die sich damit anbahnt -- -- -- -- die Städte kon-
stituieren eine Weltmacht, an welche die bürgerliche Freiheit und die
grossen Staatsbildungen anknüpfen." Noch vor der endgültigen Grün-
dung der Hansa war aber in England, im Jahre 1215, die Magna
Charta
erlassen worden, eine feierliche Verkündigung der Unantast-
barkeit des grossen Prinzipes von der persönlichen Freiheit und der
persönlichen Sicherheit. "Keiner darf verurteilt werden anders als
den Gesetzen des Landes gemäss. Recht und Gerechtigkeit dürfen
nicht verkauft und nicht verweigert werden." In einigen Ländern
Europas ist diese erste Bürgschaft für die Würde des Menschen noch
heute nicht Gesetz; seit jenem 15. Juni 1215 ist aber nach und nach
daraus ein allgemeines Gewissensgesetz geworden, und wer dagegen
verstösst, ist ein Verbrecher, trüge er auch eine Krone. Und noch
ein Wichtiges, wodurch die germanische Civilisation sich als von allen
anderen dem Wesen nach verschieden erwies: im Verlauf des 13. Jahr-
hunderts schwand die Sklaverei und der Sklavenhandel aus Europa
(mit Ausnahme von Spanien). Im 13. Jahrhundert beginnt der Über-
gang von der Naturalienwirtschaft zur Geldwirtschaft; fast genau im
Jahre 1200 beginnt in Europa die Fabrikation des Papiers -- ohne
Frage die folgenschwerste Errungenschaft der Industrie bis zur Er-
findung der Lokomotive. -- Man würde aber weit fehl gehen,
wollte man allein in dem Aufschwung des Handels und in der Regung
freiheitlicher Triebe die Dämmerung eines neuen Tages erblicken.
Vielleicht ist die grosse Bewegung des religiösen Gemütes, welche in
Franz von Assisi (geb. 1181) ihren mächtigsten Ausdruck ge-

Allgemeine Einleitung.
auch die Hoffnung auf Besseres. Der Blick zurück berechtigt in der
That zu grossen Hoffnungen. Und, ich wiederhole es, forscht dieser
Blick, wo der erste Schimmer dieser Hoffnungsstrahlen deutlich be-
merkbar wird, so findet er die Zeit um das Jahr 1200 herum. In
Italien hatte schon im 11. Jahrhundert die städtische Bewegung be-
gonnen, jene Bewegung, welche zugleich die Hebung von Handel
und Industrie und die Gewährung weitgehender Freiheitsrechte an
ganze Klassen der Bevölkerung, die bisher unter der zwiefachen Knecht-
schaft von Kirche und Staat geschmachtet hatten, erstrebte; im 12. Jahr-
hundert war dieses Erstarken des Kernes der europäischen Be-
völkerung an Ausdehnung und Kraft dermassen gewachsen, dass
zu Beginn des 13. die mächtige Hansa und der rheinische Städte-
bund gegründet werden konnten. Über diese Bewegung schreibt
Ranke (Weltgeschichte IV, 238): »Es ist eine prächtige, lebensvolle
Entwickelung, die sich damit anbahnt — — — — die Städte kon-
stituieren eine Weltmacht, an welche die bürgerliche Freiheit und die
grossen Staatsbildungen anknüpfen.« Noch vor der endgültigen Grün-
dung der Hansa war aber in England, im Jahre 1215, die Magna
Charta
erlassen worden, eine feierliche Verkündigung der Unantast-
barkeit des grossen Prinzipes von der persönlichen Freiheit und der
persönlichen Sicherheit. »Keiner darf verurteilt werden anders als
den Gesetzen des Landes gemäss. Recht und Gerechtigkeit dürfen
nicht verkauft und nicht verweigert werden.« In einigen Ländern
Europas ist diese erste Bürgschaft für die Würde des Menschen noch
heute nicht Gesetz; seit jenem 15. Juni 1215 ist aber nach und nach
daraus ein allgemeines Gewissensgesetz geworden, und wer dagegen
verstösst, ist ein Verbrecher, trüge er auch eine Krone. Und noch
ein Wichtiges, wodurch die germanische Civilisation sich als von allen
anderen dem Wesen nach verschieden erwies: im Verlauf des 13. Jahr-
hunderts schwand die Sklaverei und der Sklavenhandel aus Europa
(mit Ausnahme von Spanien). Im 13. Jahrhundert beginnt der Über-
gang von der Naturalienwirtschaft zur Geldwirtschaft; fast genau im
Jahre 1200 beginnt in Europa die Fabrikation des Papiers — ohne
Frage die folgenschwerste Errungenschaft der Industrie bis zur Er-
findung der Lokomotive. — Man würde aber weit fehl gehen,
wollte man allein in dem Aufschwung des Handels und in der Regung
freiheitlicher Triebe die Dämmerung eines neuen Tages erblicken.
Vielleicht ist die grosse Bewegung des religiösen Gemütes, welche in
Franz von Assisi (geb. 1181) ihren mächtigsten Ausdruck ge-

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[12/0035] Allgemeine Einleitung. auch die Hoffnung auf Besseres. Der Blick zurück berechtigt in der That zu grossen Hoffnungen. Und, ich wiederhole es, forscht dieser Blick, wo der erste Schimmer dieser Hoffnungsstrahlen deutlich be- merkbar wird, so findet er die Zeit um das Jahr 1200 herum. In Italien hatte schon im 11. Jahrhundert die städtische Bewegung be- gonnen, jene Bewegung, welche zugleich die Hebung von Handel und Industrie und die Gewährung weitgehender Freiheitsrechte an ganze Klassen der Bevölkerung, die bisher unter der zwiefachen Knecht- schaft von Kirche und Staat geschmachtet hatten, erstrebte; im 12. Jahr- hundert war dieses Erstarken des Kernes der europäischen Be- völkerung an Ausdehnung und Kraft dermassen gewachsen, dass zu Beginn des 13. die mächtige Hansa und der rheinische Städte- bund gegründet werden konnten. Über diese Bewegung schreibt Ranke (Weltgeschichte IV, 238): »Es ist eine prächtige, lebensvolle Entwickelung, die sich damit anbahnt — — — — die Städte kon- stituieren eine Weltmacht, an welche die bürgerliche Freiheit und die grossen Staatsbildungen anknüpfen.« Noch vor der endgültigen Grün- dung der Hansa war aber in England, im Jahre 1215, die Magna Charta erlassen worden, eine feierliche Verkündigung der Unantast- barkeit des grossen Prinzipes von der persönlichen Freiheit und der persönlichen Sicherheit. »Keiner darf verurteilt werden anders als den Gesetzen des Landes gemäss. Recht und Gerechtigkeit dürfen nicht verkauft und nicht verweigert werden.« In einigen Ländern Europas ist diese erste Bürgschaft für die Würde des Menschen noch heute nicht Gesetz; seit jenem 15. Juni 1215 ist aber nach und nach daraus ein allgemeines Gewissensgesetz geworden, und wer dagegen verstösst, ist ein Verbrecher, trüge er auch eine Krone. Und noch ein Wichtiges, wodurch die germanische Civilisation sich als von allen anderen dem Wesen nach verschieden erwies: im Verlauf des 13. Jahr- hunderts schwand die Sklaverei und der Sklavenhandel aus Europa (mit Ausnahme von Spanien). Im 13. Jahrhundert beginnt der Über- gang von der Naturalienwirtschaft zur Geldwirtschaft; fast genau im Jahre 1200 beginnt in Europa die Fabrikation des Papiers — ohne Frage die folgenschwerste Errungenschaft der Industrie bis zur Er- findung der Lokomotive. — Man würde aber weit fehl gehen, wollte man allein in dem Aufschwung des Handels und in der Regung freiheitlicher Triebe die Dämmerung eines neuen Tages erblicken. Vielleicht ist die grosse Bewegung des religiösen Gemütes, welche in Franz von Assisi (geb. 1181) ihren mächtigsten Ausdruck ge-

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/35>, abgerufen am 24.11.2024.