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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Völkerchaos.
oder der Goldene Esel verfasste.1) Auf diesen Gegenstand kann
ich mich natürlich hier nicht näher einlassen, das würde mich viel
zu weit führen; er verdiente ein ganzes Buch für sich; und doch
wäre die ausführliche Kennzeichnung des geistigen Zustandes der Edlen
unter diesen Söhnen des Chaos die rechte Ergänzung zu der Skizze
des leichtsinnigen Lucian.2) Man würde sehen, dass überall das Gleich-
gewicht gestört ist; hier, bei Lucian, redet der entfesselte Intellekt das
grosse Wort und der Mangel an moralischer Kraft richtet die schönsten
Anlagen zu Grunde, dort, bei Augustinus, ringt der Charakter in
einem verzweifelten Kampfe und ruht nicht eher, bis er sein Denken
zu Boden geworfen und in Fesseln geschlagen hat.

So sahen die Menschen aus, durch welche uns Neueren das
Erbe des Altertums übermacht wurde. Durch ihre Hände gingen
Philosophie und Recht, die Begriffe über Staat, Freiheit, Menschen-
würde, sie waren es, welche den früher nur im ignorantesten Ab-
schaum der Bevölkerung lebenden Aberglauben (Dämonenglauben,
Hexenwesen u. s. w.) zu der Würde allerkannter Dogmen erhoben, sie
waren es, welche aus den disparatesten Elementen eine neue Religion
zusammenschmiedeten und welche die Welt mit der römischen Kirche
beschenkten, einer Art Wechselbalg des römischen Imperiumgedankens;
zugleich waren sie es, die mit der Wut der Schwachen alles Schöne
aus der Vergangenheit, wo sie nur die Hand darauf legen konnten,
jede Erinnerung an grosse Geschlechter zerstörten. Hass und Ver-
achtung wurde gegen jede Errungenschaft der reinen Rassen gelehrt:
ein Lucian verspottet die grossen Denker, ein Augustinus schmäht die
Helden aus Roms heroischer Zeit, ein Tertullian schimpft Homer
"einen Lügner". Sobald die orthodoxen Kaiser Constantius, Theo-
dosius u. s. w. auf den Thron kommen (ohne Ausnahme Rassen-
bastarde, der grosse Diocletian war der letzte Kaiser aus reinem Blute,3)
wird mit der systematischen Vernichtung aller Monumente des Alter-
tums begonnen. Zugleich wird die bewusste Lüge zur angeb-

1) Diese Erzählung scheint damals kursiert zu haben, denn auch Lucian hat
einen: Lucius oder der bezauberte Esel, der allerdings so aussieht, als
wäre er aus Bruchstücken des Apulejischen übersetzt. Augustinus meint von der
Verwandlung "aut finxit, aut indicavit", neigt aber offenbar zu letzterer Annahme.
2) Über die unvereinbaren Widersprüche im religiösen Denken und Fühlen
des Augustinus habe ich im 7. Kapitel ausführlich gesprochen und somit die hier
gefühlte Lücke ausgefüllt.
3) Vergl. auch das S. 150 fg. Ausgeführte.
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Das Völkerchaos.
oder der Goldene Esel verfasste.1) Auf diesen Gegenstand kann
ich mich natürlich hier nicht näher einlassen, das würde mich viel
zu weit führen; er verdiente ein ganzes Buch für sich; und doch
wäre die ausführliche Kennzeichnung des geistigen Zustandes der Edlen
unter diesen Söhnen des Chaos die rechte Ergänzung zu der Skizze
des leichtsinnigen Lucian.2) Man würde sehen, dass überall das Gleich-
gewicht gestört ist; hier, bei Lucian, redet der entfesselte Intellekt das
grosse Wort und der Mangel an moralischer Kraft richtet die schönsten
Anlagen zu Grunde, dort, bei Augustinus, ringt der Charakter in
einem verzweifelten Kampfe und ruht nicht eher, bis er sein Denken
zu Boden geworfen und in Fesseln geschlagen hat.

So sahen die Menschen aus, durch welche uns Neueren das
Erbe des Altertums übermacht wurde. Durch ihre Hände gingen
Philosophie und Recht, die Begriffe über Staat, Freiheit, Menschen-
würde, sie waren es, welche den früher nur im ignorantesten Ab-
schaum der Bevölkerung lebenden Aberglauben (Dämonenglauben,
Hexenwesen u. s. w.) zu der Würde allerkannter Dogmen erhoben, sie
waren es, welche aus den disparatesten Elementen eine neue Religion
zusammenschmiedeten und welche die Welt mit der römischen Kirche
beschenkten, einer Art Wechselbalg des römischen Imperiumgedankens;
zugleich waren sie es, die mit der Wut der Schwachen alles Schöne
aus der Vergangenheit, wo sie nur die Hand darauf legen konnten,
jede Erinnerung an grosse Geschlechter zerstörten. Hass und Ver-
achtung wurde gegen jede Errungenschaft der reinen Rassen gelehrt:
ein Lucian verspottet die grossen Denker, ein Augustinus schmäht die
Helden aus Roms heroischer Zeit, ein Tertullian schimpft Homer
»einen Lügner«. Sobald die orthodoxen Kaiser Constantius, Theo-
dosius u. s. w. auf den Thron kommen (ohne Ausnahme Rassen-
bastarde, der grosse Diocletian war der letzte Kaiser aus reinem Blute,3)
wird mit der systematischen Vernichtung aller Monumente des Alter-
tums begonnen. Zugleich wird die bewusste Lüge zur angeb-

1) Diese Erzählung scheint damals kursiert zu haben, denn auch Lucian hat
einen: Lucius oder der bezauberte Esel, der allerdings so aussieht, als
wäre er aus Bruchstücken des Apulejischen übersetzt. Augustinus meint von der
Verwandlung »aut finxit, aut indicavit«, neigt aber offenbar zu letzterer Annahme.
2) Über die unvereinbaren Widersprüche im religiösen Denken und Fühlen
des Augustinus habe ich im 7. Kapitel ausführlich gesprochen und somit die hier
gefühlte Lücke ausgefüllt.
3) Vergl. auch das S. 150 fg. Ausgeführte.
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[307/0330] Das Völkerchaos. oder der Goldene Esel verfasste. 1) Auf diesen Gegenstand kann ich mich natürlich hier nicht näher einlassen, das würde mich viel zu weit führen; er verdiente ein ganzes Buch für sich; und doch wäre die ausführliche Kennzeichnung des geistigen Zustandes der Edlen unter diesen Söhnen des Chaos die rechte Ergänzung zu der Skizze des leichtsinnigen Lucian. 2) Man würde sehen, dass überall das Gleich- gewicht gestört ist; hier, bei Lucian, redet der entfesselte Intellekt das grosse Wort und der Mangel an moralischer Kraft richtet die schönsten Anlagen zu Grunde, dort, bei Augustinus, ringt der Charakter in einem verzweifelten Kampfe und ruht nicht eher, bis er sein Denken zu Boden geworfen und in Fesseln geschlagen hat. So sahen die Menschen aus, durch welche uns Neueren das Erbe des Altertums übermacht wurde. Durch ihre Hände gingen Philosophie und Recht, die Begriffe über Staat, Freiheit, Menschen- würde, sie waren es, welche den früher nur im ignorantesten Ab- schaum der Bevölkerung lebenden Aberglauben (Dämonenglauben, Hexenwesen u. s. w.) zu der Würde allerkannter Dogmen erhoben, sie waren es, welche aus den disparatesten Elementen eine neue Religion zusammenschmiedeten und welche die Welt mit der römischen Kirche beschenkten, einer Art Wechselbalg des römischen Imperiumgedankens; zugleich waren sie es, die mit der Wut der Schwachen alles Schöne aus der Vergangenheit, wo sie nur die Hand darauf legen konnten, jede Erinnerung an grosse Geschlechter zerstörten. Hass und Ver- achtung wurde gegen jede Errungenschaft der reinen Rassen gelehrt: ein Lucian verspottet die grossen Denker, ein Augustinus schmäht die Helden aus Roms heroischer Zeit, ein Tertullian schimpft Homer »einen Lügner«. Sobald die orthodoxen Kaiser Constantius, Theo- dosius u. s. w. auf den Thron kommen (ohne Ausnahme Rassen- bastarde, der grosse Diocletian war der letzte Kaiser aus reinem Blute, 3) wird mit der systematischen Vernichtung aller Monumente des Alter- tums begonnen. Zugleich wird die bewusste Lüge zur angeb- 1) Diese Erzählung scheint damals kursiert zu haben, denn auch Lucian hat einen: Lucius oder der bezauberte Esel, der allerdings so aussieht, als wäre er aus Bruchstücken des Apulejischen übersetzt. Augustinus meint von der Verwandlung »aut finxit, aut indicavit«, neigt aber offenbar zu letzterer Annahme. 2) Über die unvereinbaren Widersprüche im religiösen Denken und Fühlen des Augustinus habe ich im 7. Kapitel ausführlich gesprochen und somit die hier gefühlte Lücke ausgefüllt. 3) Vergl. auch das S. 150 fg. Ausgeführte. 20*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/330>, abgerufen am 26.11.2024.