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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
vielgerühmten hellenischen Kultur verberge. Dass dieser Mann, der
20 Jahre lang "hellenische Bildung" gelehrt und dabei Reichtum und
Ehren eingeheimst hat, plötzlich merkt, er habe niemals auch nur
das erste Wort von dieser Bildung verstanden, das ist ein fast
rührender Zug und ein Beweis ungewöhnlicher Begabung. Daher
habe ich gerade ihn herausgewählt. In seinen Schriften findet man
auch neben den Wortwitzeleien und den vielen guten Spässen, und
ausser dem Talent, flott zu erzählen, manche scharfe, bisweilen schmerz-
durchzuckte Bemerkung. Was konnte aber bei diesem Studium heraus-
kommen? Wenig oder nichts. Wir Menschen sind eben nicht
Brettsteine; man wurde in Athen ebensowenig ein Anderer durch
gelehrten Unterricht, als man heute in Berlin, wie es Herr Virchow von
dem Einfluss der dortigen Universität erhofft, eine "schöne Persön-
lichkeit" wird, wenn man nicht bei der Immatrikulation schon eine
war. Das Wissen des Menschen ist an nichts so eng geknüpft wie
an sein Sein, mit anderen Worten, an seine bestimmte Art zu sein,
seine bestimmte Organisation. Plato meinte: Wissen sei Erinnerung;
die heutige Biologie deutet dieses Wort ein wenig um, giebt dem
Philosophen jedoch Recht. In einem durchaus inhaltreichen Sinne
darf man behaupten, jeder Mensch kann nur wissen, was er ist.
Lucian empfand selber, alles was er bisher gelernt und gelehrt habe,
sei blosses Flitterwerk: That-sachen, nicht die Seele, aus welcher diese
Thaten erwuchsen, die Hülle, doch ohne den Leib, die Schale, doch
ohne den Kern. Und als er nun endlich das einsah und die Schale
aufbrach, was fand er? Nichts. Natürlich nichts. Erst bringt die
Natur den Kern hervor, die Schale ist eine spätere Accrescenz; erst
wird der Leib geboren, dann hüllt man ihn ein; erst schlägt ein
Heldenherz, dann werden die Heldenthaten vollbracht. Lucian konnte
als Kern nur sich selbst finden: sobald er sich die Fetzen römischen
Rechtes und hellenischer Poesie vom Leibe riss, entdeckte er einen
begabten syrischen Mestizen, einen Bastard aus fünfzig ungeklärten
Blutmischungen, denselben, der mit dem sichern Instinkt der Jugend
Phidias als einen Handwerker verachtet und für sich das erwählt
hatte, was bei möglichst wenig Mühe möglichst viel Geld und die
Bewunderung des gemeinen Trosses einbrächte. Alle Philologen
der Welt mögen mir versichern, Lucian's Bemerkungen über Religion
und Philosophie seien tief, er sei ein kühner Kämpfer gegen Aber-
glauben u. s. w., nie werde ich es ihnen glauben. Lucian war ja
unfähig zu wissen, was Religion, was Philosophie überhaupt sind.

Die Erben.
vielgerühmten hellenischen Kultur verberge. Dass dieser Mann, der
20 Jahre lang »hellenische Bildung« gelehrt und dabei Reichtum und
Ehren eingeheimst hat, plötzlich merkt, er habe niemals auch nur
das erste Wort von dieser Bildung verstanden, das ist ein fast
rührender Zug und ein Beweis ungewöhnlicher Begabung. Daher
habe ich gerade ihn herausgewählt. In seinen Schriften findet man
auch neben den Wortwitzeleien und den vielen guten Spässen, und
ausser dem Talent, flott zu erzählen, manche scharfe, bisweilen schmerz-
durchzuckte Bemerkung. Was konnte aber bei diesem Studium heraus-
kommen? Wenig oder nichts. Wir Menschen sind eben nicht
Brettsteine; man wurde in Athen ebensowenig ein Anderer durch
gelehrten Unterricht, als man heute in Berlin, wie es Herr Virchow von
dem Einfluss der dortigen Universität erhofft, eine »schöne Persön-
lichkeit« wird, wenn man nicht bei der Immatrikulation schon eine
war. Das Wissen des Menschen ist an nichts so eng geknüpft wie
an sein Sein, mit anderen Worten, an seine bestimmte Art zu sein,
seine bestimmte Organisation. Plato meinte: Wissen sei Erinnerung;
die heutige Biologie deutet dieses Wort ein wenig um, giebt dem
Philosophen jedoch Recht. In einem durchaus inhaltreichen Sinne
darf man behaupten, jeder Mensch kann nur wissen, was er ist.
Lucian empfand selber, alles was er bisher gelernt und gelehrt habe,
sei blosses Flitterwerk: That-sachen, nicht die Seele, aus welcher diese
Thaten erwuchsen, die Hülle, doch ohne den Leib, die Schale, doch
ohne den Kern. Und als er nun endlich das einsah und die Schale
aufbrach, was fand er? Nichts. Natürlich nichts. Erst bringt die
Natur den Kern hervor, die Schale ist eine spätere Accrescenz; erst
wird der Leib geboren, dann hüllt man ihn ein; erst schlägt ein
Heldenherz, dann werden die Heldenthaten vollbracht. Lucian konnte
als Kern nur sich selbst finden: sobald er sich die Fetzen römischen
Rechtes und hellenischer Poesie vom Leibe riss, entdeckte er einen
begabten syrischen Mestizen, einen Bastard aus fünfzig ungeklärten
Blutmischungen, denselben, der mit dem sichern Instinkt der Jugend
Phidias als einen Handwerker verachtet und für sich das erwählt
hatte, was bei möglichst wenig Mühe möglichst viel Geld und die
Bewunderung des gemeinen Trosses einbrächte. Alle Philologen
der Welt mögen mir versichern, Lucian’s Bemerkungen über Religion
und Philosophie seien tief, er sei ein kühner Kämpfer gegen Aber-
glauben u. s. w., nie werde ich es ihnen glauben. Lucian war ja
unfähig zu wissen, was Religion, was Philosophie überhaupt sind.

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[302/0325] Die Erben. vielgerühmten hellenischen Kultur verberge. Dass dieser Mann, der 20 Jahre lang »hellenische Bildung« gelehrt und dabei Reichtum und Ehren eingeheimst hat, plötzlich merkt, er habe niemals auch nur das erste Wort von dieser Bildung verstanden, das ist ein fast rührender Zug und ein Beweis ungewöhnlicher Begabung. Daher habe ich gerade ihn herausgewählt. In seinen Schriften findet man auch neben den Wortwitzeleien und den vielen guten Spässen, und ausser dem Talent, flott zu erzählen, manche scharfe, bisweilen schmerz- durchzuckte Bemerkung. Was konnte aber bei diesem Studium heraus- kommen? Wenig oder nichts. Wir Menschen sind eben nicht Brettsteine; man wurde in Athen ebensowenig ein Anderer durch gelehrten Unterricht, als man heute in Berlin, wie es Herr Virchow von dem Einfluss der dortigen Universität erhofft, eine »schöne Persön- lichkeit« wird, wenn man nicht bei der Immatrikulation schon eine war. Das Wissen des Menschen ist an nichts so eng geknüpft wie an sein Sein, mit anderen Worten, an seine bestimmte Art zu sein, seine bestimmte Organisation. Plato meinte: Wissen sei Erinnerung; die heutige Biologie deutet dieses Wort ein wenig um, giebt dem Philosophen jedoch Recht. In einem durchaus inhaltreichen Sinne darf man behaupten, jeder Mensch kann nur wissen, was er ist. Lucian empfand selber, alles was er bisher gelernt und gelehrt habe, sei blosses Flitterwerk: That-sachen, nicht die Seele, aus welcher diese Thaten erwuchsen, die Hülle, doch ohne den Leib, die Schale, doch ohne den Kern. Und als er nun endlich das einsah und die Schale aufbrach, was fand er? Nichts. Natürlich nichts. Erst bringt die Natur den Kern hervor, die Schale ist eine spätere Accrescenz; erst wird der Leib geboren, dann hüllt man ihn ein; erst schlägt ein Heldenherz, dann werden die Heldenthaten vollbracht. Lucian konnte als Kern nur sich selbst finden: sobald er sich die Fetzen römischen Rechtes und hellenischer Poesie vom Leibe riss, entdeckte er einen begabten syrischen Mestizen, einen Bastard aus fünfzig ungeklärten Blutmischungen, denselben, der mit dem sichern Instinkt der Jugend Phidias als einen Handwerker verachtet und für sich das erwählt hatte, was bei möglichst wenig Mühe möglichst viel Geld und die Bewunderung des gemeinen Trosses einbrächte. Alle Philologen der Welt mögen mir versichern, Lucian’s Bemerkungen über Religion und Philosophie seien tief, er sei ein kühner Kämpfer gegen Aber- glauben u. s. w., nie werde ich es ihnen glauben. Lucian war ja unfähig zu wissen, was Religion, was Philosophie überhaupt sind.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/325>, abgerufen am 26.11.2024.