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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
seiner Vaterstadt zum Besten, als er sie später einmal, mit Gold und
Lorbeeren bedeckt, besuchte; der Jugend von Samosata hielt er
-- er selber sagt es -- seinen Lebenslauf als Beispiel vor. Welche
bittere Satire ihr ganzes Schicksal auf das Leben der wahrhaft
Grossen bedeutet, verstehen solche Menschen, sonst so geistvoll,
niemals; wie hätte sonst ein Heine sich in eine Linie mit einem
Goethe stellen können? Nun, Lucian hatte die Bildung erwählt;
um sie zu erwerben, begab er sich nach Antiochien. Athen war
freilich noch immer die wahre hohe Schule des Wissens und des Ge-
schmackes, galt aber für altmodisch; das syrische Antiochien und das
angeblich hellenische, doch bereits im 2. Jahrhundert mit fremden
Elementen durch und durch getränkte Ephesus übten eine weit
stärkere Anziehung auf die internationale Jugend des römischen
Reiches aus. Dort studierte Lucian das Recht und die Beredsamkeit.
Doch als intelligenter Mensch empfand er peinlich die Misshandlung
der griechischen Sprache seitens seiner Lehrer; er erriet den Wert
eines reinen Stiles und setzte nach Athen hinüber. Bezeichnend ist
es, dass er nach kurzen Studien daselbst als Anwalt und Redner
aufzutreten sich erkühnte; alles hatte er inzwischen gelernt, nur
nicht, was sich schickt; die Athener brachten es ihm bei, sie
lachten über den "Barbaren" mit seinen angelernten Fetzen fremder
Bildung und gaben ihm damit einen Wink vom Himmel: er entwich
nach einem Ort, wo man es mit dem Geschmack nicht so genau
nahm, nach Massilia. Diese phönicisch-diasporische Hafenstadt hatte
soeben durch die Ankunft Tausender von palästinischen Juden ein so
ausgesprochenes Gepräge erhalten, dass sie einfach "die Judenstadt"
hiess, doch kamen hier Gallier, Römer, Spanier, Ligurier, alles Er-
denkliche zusammen. Hier, in Neuathen, wie ihre Einwohner mit
zarter Anerkennung ihres eigenen Geisteswertes Massilia zu nennen
beliebten, lebte Lucian viele Jahre und wurde ein reicher Mann; die
Advokatur gab er auf, dazu hätte er lateinisch gründlich studieren
müssen; ausserdem war die Konkurrenz gross, und schon in An-
tiochien hatte er als Jurist keinen besondern Erfolg gehabt; was diese
reich gewordenen Leute am nötigsten brauchten war Bildung, "moderne"
Bildung und Anstandslehre. War nicht gerade "Bildung" Lucian's
Ideal, sein Traum gewesen? Hatte er nicht in Antiochien studiert
und sogar in Athen "öffentlich geredet"? Er hielt also Vorträge;
die Zuhörer verhöhnten ihn aber nicht wie in Athen, sondern zahlten
jedes Honorar, das er zu fordern beliebte. Ausserdem reiste er in

Die Erben.
seiner Vaterstadt zum Besten, als er sie später einmal, mit Gold und
Lorbeeren bedeckt, besuchte; der Jugend von Samosata hielt er
— er selber sagt es — seinen Lebenslauf als Beispiel vor. Welche
bittere Satire ihr ganzes Schicksal auf das Leben der wahrhaft
Grossen bedeutet, verstehen solche Menschen, sonst so geistvoll,
niemals; wie hätte sonst ein Heine sich in eine Linie mit einem
Goethe stellen können? Nun, Lucian hatte die Bildung erwählt;
um sie zu erwerben, begab er sich nach Antiochien. Athen war
freilich noch immer die wahre hohe Schule des Wissens und des Ge-
schmackes, galt aber für altmodisch; das syrische Antiochien und das
angeblich hellenische, doch bereits im 2. Jahrhundert mit fremden
Elementen durch und durch getränkte Ephesus übten eine weit
stärkere Anziehung auf die internationale Jugend des römischen
Reiches aus. Dort studierte Lucian das Recht und die Beredsamkeit.
Doch als intelligenter Mensch empfand er peinlich die Misshandlung
der griechischen Sprache seitens seiner Lehrer; er erriet den Wert
eines reinen Stiles und setzte nach Athen hinüber. Bezeichnend ist
es, dass er nach kurzen Studien daselbst als Anwalt und Redner
aufzutreten sich erkühnte; alles hatte er inzwischen gelernt, nur
nicht, was sich schickt; die Athener brachten es ihm bei, sie
lachten über den »Barbaren« mit seinen angelernten Fetzen fremder
Bildung und gaben ihm damit einen Wink vom Himmel: er entwich
nach einem Ort, wo man es mit dem Geschmack nicht so genau
nahm, nach Massilia. Diese phönicisch-diasporische Hafenstadt hatte
soeben durch die Ankunft Tausender von palästinischen Juden ein so
ausgesprochenes Gepräge erhalten, dass sie einfach »die Judenstadt«
hiess, doch kamen hier Gallier, Römer, Spanier, Ligurier, alles Er-
denkliche zusammen. Hier, in Neuathen, wie ihre Einwohner mit
zarter Anerkennung ihres eigenen Geisteswertes Massilia zu nennen
beliebten, lebte Lucian viele Jahre und wurde ein reicher Mann; die
Advokatur gab er auf, dazu hätte er lateinisch gründlich studieren
müssen; ausserdem war die Konkurrenz gross, und schon in An-
tiochien hatte er als Jurist keinen besondern Erfolg gehabt; was diese
reich gewordenen Leute am nötigsten brauchten war Bildung, »moderne«
Bildung und Anstandslehre. War nicht gerade »Bildung« Lucian’s
Ideal, sein Traum gewesen? Hatte er nicht in Antiochien studiert
und sogar in Athen »öffentlich geredet«? Er hielt also Vorträge;
die Zuhörer verhöhnten ihn aber nicht wie in Athen, sondern zahlten
jedes Honorar, das er zu fordern beliebte. Ausserdem reiste er in

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[300/0323] Die Erben. seiner Vaterstadt zum Besten, als er sie später einmal, mit Gold und Lorbeeren bedeckt, besuchte; der Jugend von Samosata hielt er — er selber sagt es — seinen Lebenslauf als Beispiel vor. Welche bittere Satire ihr ganzes Schicksal auf das Leben der wahrhaft Grossen bedeutet, verstehen solche Menschen, sonst so geistvoll, niemals; wie hätte sonst ein Heine sich in eine Linie mit einem Goethe stellen können? Nun, Lucian hatte die Bildung erwählt; um sie zu erwerben, begab er sich nach Antiochien. Athen war freilich noch immer die wahre hohe Schule des Wissens und des Ge- schmackes, galt aber für altmodisch; das syrische Antiochien und das angeblich hellenische, doch bereits im 2. Jahrhundert mit fremden Elementen durch und durch getränkte Ephesus übten eine weit stärkere Anziehung auf die internationale Jugend des römischen Reiches aus. Dort studierte Lucian das Recht und die Beredsamkeit. Doch als intelligenter Mensch empfand er peinlich die Misshandlung der griechischen Sprache seitens seiner Lehrer; er erriet den Wert eines reinen Stiles und setzte nach Athen hinüber. Bezeichnend ist es, dass er nach kurzen Studien daselbst als Anwalt und Redner aufzutreten sich erkühnte; alles hatte er inzwischen gelernt, nur nicht, was sich schickt; die Athener brachten es ihm bei, sie lachten über den »Barbaren« mit seinen angelernten Fetzen fremder Bildung und gaben ihm damit einen Wink vom Himmel: er entwich nach einem Ort, wo man es mit dem Geschmack nicht so genau nahm, nach Massilia. Diese phönicisch-diasporische Hafenstadt hatte soeben durch die Ankunft Tausender von palästinischen Juden ein so ausgesprochenes Gepräge erhalten, dass sie einfach »die Judenstadt« hiess, doch kamen hier Gallier, Römer, Spanier, Ligurier, alles Er- denkliche zusammen. Hier, in Neuathen, wie ihre Einwohner mit zarter Anerkennung ihres eigenen Geisteswertes Massilia zu nennen beliebten, lebte Lucian viele Jahre und wurde ein reicher Mann; die Advokatur gab er auf, dazu hätte er lateinisch gründlich studieren müssen; ausserdem war die Konkurrenz gross, und schon in An- tiochien hatte er als Jurist keinen besondern Erfolg gehabt; was diese reich gewordenen Leute am nötigsten brauchten war Bildung, »moderne« Bildung und Anstandslehre. War nicht gerade »Bildung« Lucian’s Ideal, sein Traum gewesen? Hatte er nicht in Antiochien studiert und sogar in Athen »öffentlich geredet«? Er hielt also Vorträge; die Zuhörer verhöhnten ihn aber nicht wie in Athen, sondern zahlten jedes Honorar, das er zu fordern beliebte. Ausserdem reiste er in

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/323>, abgerufen am 27.11.2024.