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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Völkerchaos.

Es ist ebenso leicht als wichtig, sich den Umfang dieses Länder-
komplexes vorzustellen. Die Donau und der Rhein treffen an ihrem
Ursprung fast zusammen; die beiden Flussgebiete greifen so genau in
einander über, dass es in der Nähe des Albulapasses einen kleinen See
giebt, der bei hohem Wasserstande, so wird versichert, auf der einen
Seite in die Albula und den Rhein, auf der anderen in den Inn und
die Donau abfliesst. Verfolgt man nun den Lauf dieser Flüsse von
der Mündung des Rheins in die Nordsee, bei Rotterdam, den Rhein
hinauf und die Donau hinunter bis zu ihrer Mündung in das Schwarze
Meer, so erhält man eine ununterbrochene Linie, welche den europä-
ischen Kontinent in der Richtung von Nordwesten nach Südosten
durchkreuzt; sie bildet die durchschnittliche Nordgrenze des römischen
Reiches während langer Zeit; ausser in Teilen von Dacien (im heutigen
Rumänien) haben sich die Römer niemals nördlich und östlich von
dieser Grenze dauernd behauptet.1) Diese Linie teilt Europa (wenn man
den asiatischen und afrikanischen Besitz Roms dazurechnet) in zwei fast
gleiche Teile. In dem südlichen Teile hat nun die grosse Bluttransfusion
(wie die Ärzte die Einspritzung fremden Blutes in einen Organismus
nennen) stattgefunden. Betitelt Maspero in seiner Geschichte der Völker
des klassischen Orients
den einen Band "das erste Durcheinander der
Völker", so könnte man hier von einem zweiten Durcheinander reden.
In Britannien, sowie in Rhätien, im allernördlichsten Gallien u. s. w.
scheint es freilich trotz der römischen Herrschaft zu keiner eigentlichen
Durchdringung gekommen zu sein; auch im übrigen Gallien, sowie
in Hispanien hatten wenigstens die aus Rom importierten neuen Ele-
mente etliche Jahrhunderte verhältnismässiger Abgeschiedenheit zur
Verschmelzung mit den früheren Einwohnern, ehe andere nachkamen,
ein Umstand, welcher die Ausbildung einer neuen, sehr charakteristischen
Rasse, der gallorömischen, ermöglichte. Im Südosten dagegen, und
namentlich an allen Kulturzentren (die, wie bereits hervorgehoben,
einzig im Süden und Osten lagen) ergab sich ein um so gründlicheres,
verderblicheres Durcheinander, als die aus dem Orient Hinzuströmenden
selber lauter halbschlächtige Menschen waren. Unter damaligen Syriern

1) Das römische Grenzwallsystem schnitt allerdings ein ziemliches Stück
nördlich von der Donau und östlich vom Rhein ab, indem der Limes oberhalb
Regensburg nach Westen abzweigte, bis in die Nähe von Stuttgart, von dort
wieder nach Norden, bis er westlich von Würzburg den Main traf. Doch wurde
dieses sog. "Zehntland" nicht von Italern, sondern, wie Tacitus erzählt, von "den
Leichtfertigsten der Gallier" bezogen. (Vgl. Wietersheim: Völkerwanderung I, 161 ff.)
Das Völkerchaos.

Es ist ebenso leicht als wichtig, sich den Umfang dieses Länder-
komplexes vorzustellen. Die Donau und der Rhein treffen an ihrem
Ursprung fast zusammen; die beiden Flussgebiete greifen so genau in
einander über, dass es in der Nähe des Albulapasses einen kleinen See
giebt, der bei hohem Wasserstande, so wird versichert, auf der einen
Seite in die Albula und den Rhein, auf der anderen in den Inn und
die Donau abfliesst. Verfolgt man nun den Lauf dieser Flüsse von
der Mündung des Rheins in die Nordsee, bei Rotterdam, den Rhein
hinauf und die Donau hinunter bis zu ihrer Mündung in das Schwarze
Meer, so erhält man eine ununterbrochene Linie, welche den europä-
ischen Kontinent in der Richtung von Nordwesten nach Südosten
durchkreuzt; sie bildet die durchschnittliche Nordgrenze des römischen
Reiches während langer Zeit; ausser in Teilen von Dacien (im heutigen
Rumänien) haben sich die Römer niemals nördlich und östlich von
dieser Grenze dauernd behauptet.1) Diese Linie teilt Europa (wenn man
den asiatischen und afrikanischen Besitz Roms dazurechnet) in zwei fast
gleiche Teile. In dem südlichen Teile hat nun die grosse Bluttransfusion
(wie die Ärzte die Einspritzung fremden Blutes in einen Organismus
nennen) stattgefunden. Betitelt Maspero in seiner Geschichte der Völker
des klassischen Orients
den einen Band »das erste Durcheinander der
Völker«, so könnte man hier von einem zweiten Durcheinander reden.
In Britannien, sowie in Rhätien, im allernördlichsten Gallien u. s. w.
scheint es freilich trotz der römischen Herrschaft zu keiner eigentlichen
Durchdringung gekommen zu sein; auch im übrigen Gallien, sowie
in Hispanien hatten wenigstens die aus Rom importierten neuen Ele-
mente etliche Jahrhunderte verhältnismässiger Abgeschiedenheit zur
Verschmelzung mit den früheren Einwohnern, ehe andere nachkamen,
ein Umstand, welcher die Ausbildung einer neuen, sehr charakteristischen
Rasse, der gallorömischen, ermöglichte. Im Südosten dagegen, und
namentlich an allen Kulturzentren (die, wie bereits hervorgehoben,
einzig im Süden und Osten lagen) ergab sich ein um so gründlicheres,
verderblicheres Durcheinander, als die aus dem Orient Hinzuströmenden
selber lauter halbschlächtige Menschen waren. Unter damaligen Syriern

1) Das römische Grenzwallsystem schnitt allerdings ein ziemliches Stück
nördlich von der Donau und östlich vom Rhein ab, indem der Limes oberhalb
Regensburg nach Westen abzweigte, bis in die Nähe von Stuttgart, von dort
wieder nach Norden, bis er westlich von Würzburg den Main traf. Doch wurde
dieses sog. »Zehntland« nicht von Italern, sondern, wie Tacitus erzählt, von »den
Leichtfertigsten der Gallier« bezogen. (Vgl. Wietersheim: Völkerwanderung I, 161 ff.)
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[297/0320] Das Völkerchaos. Es ist ebenso leicht als wichtig, sich den Umfang dieses Länder- komplexes vorzustellen. Die Donau und der Rhein treffen an ihrem Ursprung fast zusammen; die beiden Flussgebiete greifen so genau in einander über, dass es in der Nähe des Albulapasses einen kleinen See giebt, der bei hohem Wasserstande, so wird versichert, auf der einen Seite in die Albula und den Rhein, auf der anderen in den Inn und die Donau abfliesst. Verfolgt man nun den Lauf dieser Flüsse von der Mündung des Rheins in die Nordsee, bei Rotterdam, den Rhein hinauf und die Donau hinunter bis zu ihrer Mündung in das Schwarze Meer, so erhält man eine ununterbrochene Linie, welche den europä- ischen Kontinent in der Richtung von Nordwesten nach Südosten durchkreuzt; sie bildet die durchschnittliche Nordgrenze des römischen Reiches während langer Zeit; ausser in Teilen von Dacien (im heutigen Rumänien) haben sich die Römer niemals nördlich und östlich von dieser Grenze dauernd behauptet. 1) Diese Linie teilt Europa (wenn man den asiatischen und afrikanischen Besitz Roms dazurechnet) in zwei fast gleiche Teile. In dem südlichen Teile hat nun die grosse Bluttransfusion (wie die Ärzte die Einspritzung fremden Blutes in einen Organismus nennen) stattgefunden. Betitelt Maspero in seiner Geschichte der Völker des klassischen Orients den einen Band »das erste Durcheinander der Völker«, so könnte man hier von einem zweiten Durcheinander reden. In Britannien, sowie in Rhätien, im allernördlichsten Gallien u. s. w. scheint es freilich trotz der römischen Herrschaft zu keiner eigentlichen Durchdringung gekommen zu sein; auch im übrigen Gallien, sowie in Hispanien hatten wenigstens die aus Rom importierten neuen Ele- mente etliche Jahrhunderte verhältnismässiger Abgeschiedenheit zur Verschmelzung mit den früheren Einwohnern, ehe andere nachkamen, ein Umstand, welcher die Ausbildung einer neuen, sehr charakteristischen Rasse, der gallorömischen, ermöglichte. Im Südosten dagegen, und namentlich an allen Kulturzentren (die, wie bereits hervorgehoben, einzig im Süden und Osten lagen) ergab sich ein um so gründlicheres, verderblicheres Durcheinander, als die aus dem Orient Hinzuströmenden selber lauter halbschlächtige Menschen waren. Unter damaligen Syriern 1) Das römische Grenzwallsystem schnitt allerdings ein ziemliches Stück nördlich von der Donau und östlich vom Rhein ab, indem der Limes oberhalb Regensburg nach Westen abzweigte, bis in die Nähe von Stuttgart, von dort wieder nach Norden, bis er westlich von Würzburg den Main traf. Doch wurde dieses sog. »Zehntland« nicht von Italern, sondern, wie Tacitus erzählt, von »den Leichtfertigsten der Gallier« bezogen. (Vgl. Wietersheim: Völkerwanderung I, 161 ff.)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/320>, abgerufen am 27.11.2024.