heit sich klar wird und sein geistiges Erbe analytisch zergliedert, zu einer relativen Freiheit durchzudringen; so wird er sich seiner Be- dingtheit wenigstens bewusst und, kann er sich auch selber nicht um- wandeln, er kann wenigstens auf die Richtung der Weiterentwickelung Einfluss gewinnen; ein ganzes Jahrhundert dagegen eilt unbewusst wie es das Schicksal treibt: sein Menschenmaterial ist die Frucht dahingeschwundener Generationen, sein geistiger Schatz -- Korn und Spreu, Gold, Silber, Erz und Thon -- ist ein ererbter, seine Richtungen und Schwankungen ergeben sich mit mathematischer Notwendigkeit aus den vorhergegangenen Bewegungen. Nicht allein also der Ver- gleich, nicht allein die Feststellung der charakteristischen Merkmale, der speziellen Eigenschaften und Leistungen unseres Jahrhunderts ist ohne Kenntnis der vorangegangenen unmöglich, sondern wir vermögen es auch nicht, irgend etwas über dieses Jahrhundert an und für sich auszusagen, wenn wir nicht zunächst Klarheit erlangt haben über das Material, aus welchem wir leiblich und geistig aufgebaut sind. Dies ist, ich wiederhole es, das allerwichtigste Geschäft.
Da ich nun in diesem Buche an die Vergangenheit anknüpfe,Der Angelpunkt. war ich gezwungen, ein historisches Zeitschema zu entwerfen. Doch insofern meine Geschichte einem unmessbaren Augenblick -- der Gegenwart -- gilt, der keinen bestimmten zeitlichen Abschluss ge- stattet, bedarf sie ebensowenig eines zeitlich bestimmten Anfangs. Unser Jahrhundert weist hinaus in die Zukunft, es weist auch zurück in die Vergangenheit: in beiden Fällen ist eine Begrenzung nur der Bequemlichkeit halber zulässig, doch nicht in den Thatsachen gegeben. Im Allgemeinen habe ich das Jahr 1 der christlichen Zeitrechnung als den Anfang unserer Geschichte betrachtet und habe diese Auf- fassung in den einleitenden Worten zum ersten Abschnitt näher begründet; doch wird man sehen, dass ich mich nicht sklavisch an dieses Schema gehalten habe. Sollten wir jemals wirkliche Christen werden, dann allerdings wäre dasjenige, was hier nur angedeutet, nicht ausgeführt werden konnte, eine historische Wirklichkeit, denn das würde die Geburt eines neuen Geschlechtes bedeuten: vielleicht wird das vierundzwanzigste Jahrhundert, bis zu welchem etwa die Schatten des unsrigen in schmalen Streifen sich erstrecken, klarere Umrisse zeichnen können? Musste ich nun Anfang und Ende in eine unbegrenzte penombra sich verlaufen lassen, umso unumgänglicher bedurfte ich eines scharfgezogenen Mittelstriches, und zwar konnte ein beliebiges Datum hier nicht genügen, sondern es kam darauf an, den
Allgemeine Einleitung.
heit sich klar wird und sein geistiges Erbe analytisch zergliedert, zu einer relativen Freiheit durchzudringen; so wird er sich seiner Be- dingtheit wenigstens bewusst und, kann er sich auch selber nicht um- wandeln, er kann wenigstens auf die Richtung der Weiterentwickelung Einfluss gewinnen; ein ganzes Jahrhundert dagegen eilt unbewusst wie es das Schicksal treibt: sein Menschenmaterial ist die Frucht dahingeschwundener Generationen, sein geistiger Schatz — Korn und Spreu, Gold, Silber, Erz und Thon — ist ein ererbter, seine Richtungen und Schwankungen ergeben sich mit mathematischer Notwendigkeit aus den vorhergegangenen Bewegungen. Nicht allein also der Ver- gleich, nicht allein die Feststellung der charakteristischen Merkmale, der speziellen Eigenschaften und Leistungen unseres Jahrhunderts ist ohne Kenntnis der vorangegangenen unmöglich, sondern wir vermögen es auch nicht, irgend etwas über dieses Jahrhundert an und für sich auszusagen, wenn wir nicht zunächst Klarheit erlangt haben über das Material, aus welchem wir leiblich und geistig aufgebaut sind. Dies ist, ich wiederhole es, das allerwichtigste Geschäft.
Da ich nun in diesem Buche an die Vergangenheit anknüpfe,Der Angelpunkt. war ich gezwungen, ein historisches Zeitschema zu entwerfen. Doch insofern meine Geschichte einem unmessbaren Augenblick — der Gegenwart — gilt, der keinen bestimmten zeitlichen Abschluss ge- stattet, bedarf sie ebensowenig eines zeitlich bestimmten Anfangs. Unser Jahrhundert weist hinaus in die Zukunft, es weist auch zurück in die Vergangenheit: in beiden Fällen ist eine Begrenzung nur der Bequemlichkeit halber zulässig, doch nicht in den Thatsachen gegeben. Im Allgemeinen habe ich das Jahr 1 der christlichen Zeitrechnung als den Anfang unserer Geschichte betrachtet und habe diese Auf- fassung in den einleitenden Worten zum ersten Abschnitt näher begründet; doch wird man sehen, dass ich mich nicht sklavisch an dieses Schema gehalten habe. Sollten wir jemals wirkliche Christen werden, dann allerdings wäre dasjenige, was hier nur angedeutet, nicht ausgeführt werden konnte, eine historische Wirklichkeit, denn das würde die Geburt eines neuen Geschlechtes bedeuten: vielleicht wird das vierundzwanzigste Jahrhundert, bis zu welchem etwa die Schatten des unsrigen in schmalen Streifen sich erstrecken, klarere Umrisse zeichnen können? Musste ich nun Anfang und Ende in eine unbegrenzte penombra sich verlaufen lassen, umso unumgänglicher bedurfte ich eines scharfgezogenen Mittelstriches, und zwar konnte ein beliebiges Datum hier nicht genügen, sondern es kam darauf an, den
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Allgemeine Einleitung.
heit sich klar wird und sein geistiges Erbe analytisch zergliedert,
zu einer relativen Freiheit durchzudringen; so wird er sich seiner Be-
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wandeln, er kann wenigstens auf die Richtung der Weiterentwickelung
Einfluss gewinnen; ein ganzes Jahrhundert dagegen eilt unbewusst
wie es das Schicksal treibt: sein Menschenmaterial ist die Frucht
dahingeschwundener Generationen, sein geistiger Schatz — Korn und
Spreu, Gold, Silber, Erz und Thon — ist ein ererbter, seine Richtungen
und Schwankungen ergeben sich mit mathematischer Notwendigkeit
aus den vorhergegangenen Bewegungen. Nicht allein also der Ver-
gleich, nicht allein die Feststellung der charakteristischen Merkmale,
der speziellen Eigenschaften und Leistungen unseres Jahrhunderts ist
ohne Kenntnis der vorangegangenen unmöglich, sondern wir vermögen
es auch nicht, irgend etwas über dieses Jahrhundert an und für sich
auszusagen, wenn wir nicht zunächst Klarheit erlangt haben über das
Material, aus welchem wir leiblich und geistig aufgebaut sind.
Dies ist, ich wiederhole es, das allerwichtigste Geschäft.
Da ich nun in diesem Buche an die Vergangenheit anknüpfe,
war ich gezwungen, ein historisches Zeitschema zu entwerfen. Doch
insofern meine Geschichte einem unmessbaren Augenblick — der
Gegenwart — gilt, der keinen bestimmten zeitlichen Abschluss ge-
stattet, bedarf sie ebensowenig eines zeitlich bestimmten Anfangs.
Unser Jahrhundert weist hinaus in die Zukunft, es weist auch zurück
in die Vergangenheit: in beiden Fällen ist eine Begrenzung nur der
Bequemlichkeit halber zulässig, doch nicht in den Thatsachen gegeben.
Im Allgemeinen habe ich das Jahr 1 der christlichen Zeitrechnung
als den Anfang unserer Geschichte betrachtet und habe diese Auf-
fassung in den einleitenden Worten zum ersten Abschnitt näher
begründet; doch wird man sehen, dass ich mich nicht sklavisch an
dieses Schema gehalten habe. Sollten wir jemals wirkliche Christen
werden, dann allerdings wäre dasjenige, was hier nur angedeutet,
nicht ausgeführt werden konnte, eine historische Wirklichkeit, denn
das würde die Geburt eines neuen Geschlechtes bedeuten: vielleicht
wird das vierundzwanzigste Jahrhundert, bis zu welchem etwa die
Schatten des unsrigen in schmalen Streifen sich erstrecken, klarere
Umrisse zeichnen können? Musste ich nun Anfang und Ende in eine
unbegrenzte penombra sich verlaufen lassen, umso unumgänglicher
bedurfte ich eines scharfgezogenen Mittelstriches, und zwar konnte ein
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/30>, abgerufen am 16.02.2025.
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