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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
uns praktischen, handelnden, dem Leben angehörigen Männern nicht.
Und zwar darum nicht, weil wir, um die Lehren der Geschichte zu
deuten und um, im Zusammenhang hiermit, unsere Gegenwart zu
begreifen, gar nicht nach verborgenen Ursprüngen und Ursachen zu
forschen brauchen. Schon im vorigen Abschnitt habe ich Goethe's
Worte angeführt: "Lebhafte Frage nach der Ursache ist von grosser
Schädlichkeit". Was klar vor Aller Augen liegt, genügt schon, wenn
nicht für die Wissenschaft, so doch für das Leben. Die Wissenschaft
freilich muss ihren dornigen, doch ewig reizvollen Weg weiterwandeln;
sie gleicht einem Bergsteiger, der jeden Augenblick die höchste Kuppe
zu erreichen wähnt, sobald er sie aber betritt, eine noch höhere ent-
deckt. Doch ist das Leben an diesen wechselnden Hypothesen nur
ganz indirekt beteiligt. Eine der verhängnisvollsten Verirrungen unserer
Zeit ist die, welche uns dazu treibt, den sogenannten "Ergebnissen"
der Wissenschaft ein Übergewicht in unseren Urteilen einzuräumen.
Gewiss kann Wissen aufklärend wirken, das ist aber nicht immer
der Fall, namentlich deswegen nicht, weil dieses Wissen ewig auf
schwanken Füssen steht. Wie können denn einsichtsvolle Menschen
bezweifeln, dass vieles, was wir heute zu wissen wähnen, in 100,
200, 500 Jahren als krasse Ignoranz belächelt werden wird? Manche
Thatsachen mögen freilich schon heute als endgültig sichergestellt
betrachtet werden; neues Wissen rückt aber dieselben Thatsachen in
ein ganz neues Licht, verbindet sie zu früher nicht geahnten Figuren,
verrückt sie in der Perspektive; das Urteil nach dem jeweiligen Stand
der Wissenschaft richten, ist dasselbe als wenn ein Maler die Welt
durch ein durchsichtiges, ewig wechselndes Kaleidoskop, statt mit
dem blossen Auge betrachten wollte. Reine Wissenschaft (im Gegen-
satz zur industriellen) ist ein edles Spielzeug; ihr grosser, geistiger
und sittlicher Wert beruht zum nicht geringen Teil gerade darauf,
dass sie nichts "nützt"; in dieser Beziehung ist sie der Kunst durch-
aus analog, sie bedeutet das nach aussen gewandte Sinnen; und da
die Natur unerschöpflich reich ist, führt sie dadurch dem Inneren
immer neues Material zu, bereichert dessen Inventar an Vorstellungen,
und bereitet der Phantasie eine neue Traumwelt als Ersatz für die
allmählich verblassende alte.1) Das Leben dagegen, rein als solches,

1) In ähnlicher Weise äussert sich der Physiker Lichtenberg: "Die Natur-
lehre ist, für mich wenigstens, eine Art von sinking fund (Tilgungsfond) für die
Religion, wenn die vorwitzige Vernunft Schulden macht." (Fragmentarische Be-
merkungen über physikalische Gegenstände,
15.)

Die Erben.
uns praktischen, handelnden, dem Leben angehörigen Männern nicht.
Und zwar darum nicht, weil wir, um die Lehren der Geschichte zu
deuten und um, im Zusammenhang hiermit, unsere Gegenwart zu
begreifen, gar nicht nach verborgenen Ursprüngen und Ursachen zu
forschen brauchen. Schon im vorigen Abschnitt habe ich Goethe’s
Worte angeführt: »Lebhafte Frage nach der Ursache ist von grosser
Schädlichkeit«. Was klar vor Aller Augen liegt, genügt schon, wenn
nicht für die Wissenschaft, so doch für das Leben. Die Wissenschaft
freilich muss ihren dornigen, doch ewig reizvollen Weg weiterwandeln;
sie gleicht einem Bergsteiger, der jeden Augenblick die höchste Kuppe
zu erreichen wähnt, sobald er sie aber betritt, eine noch höhere ent-
deckt. Doch ist das Leben an diesen wechselnden Hypothesen nur
ganz indirekt beteiligt. Eine der verhängnisvollsten Verirrungen unserer
Zeit ist die, welche uns dazu treibt, den sogenannten »Ergebnissen«
der Wissenschaft ein Übergewicht in unseren Urteilen einzuräumen.
Gewiss kann Wissen aufklärend wirken, das ist aber nicht immer
der Fall, namentlich deswegen nicht, weil dieses Wissen ewig auf
schwanken Füssen steht. Wie können denn einsichtsvolle Menschen
bezweifeln, dass vieles, was wir heute zu wissen wähnen, in 100,
200, 500 Jahren als krasse Ignoranz belächelt werden wird? Manche
Thatsachen mögen freilich schon heute als endgültig sichergestellt
betrachtet werden; neues Wissen rückt aber dieselben Thatsachen in
ein ganz neues Licht, verbindet sie zu früher nicht geahnten Figuren,
verrückt sie in der Perspektive; das Urteil nach dem jeweiligen Stand
der Wissenschaft richten, ist dasselbe als wenn ein Maler die Welt
durch ein durchsichtiges, ewig wechselndes Kaleidoskop, statt mit
dem blossen Auge betrachten wollte. Reine Wissenschaft (im Gegen-
satz zur industriellen) ist ein edles Spielzeug; ihr grosser, geistiger
und sittlicher Wert beruht zum nicht geringen Teil gerade darauf,
dass sie nichts »nützt«; in dieser Beziehung ist sie der Kunst durch-
aus analog, sie bedeutet das nach aussen gewandte Sinnen; und da
die Natur unerschöpflich reich ist, führt sie dadurch dem Inneren
immer neues Material zu, bereichert dessen Inventar an Vorstellungen,
und bereitet der Phantasie eine neue Traumwelt als Ersatz für die
allmählich verblassende alte.1) Das Leben dagegen, rein als solches,

1) In ähnlicher Weise äussert sich der Physiker Lichtenberg: »Die Natur-
lehre ist, für mich wenigstens, eine Art von sinking fund (Tilgungsfond) für die
Religion, wenn die vorwitzige Vernunft Schulden macht.« (Fragmentarische Be-
merkungen über physikalische Gegenstände,
15.)
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[270/0293] Die Erben. uns praktischen, handelnden, dem Leben angehörigen Männern nicht. Und zwar darum nicht, weil wir, um die Lehren der Geschichte zu deuten und um, im Zusammenhang hiermit, unsere Gegenwart zu begreifen, gar nicht nach verborgenen Ursprüngen und Ursachen zu forschen brauchen. Schon im vorigen Abschnitt habe ich Goethe’s Worte angeführt: »Lebhafte Frage nach der Ursache ist von grosser Schädlichkeit«. Was klar vor Aller Augen liegt, genügt schon, wenn nicht für die Wissenschaft, so doch für das Leben. Die Wissenschaft freilich muss ihren dornigen, doch ewig reizvollen Weg weiterwandeln; sie gleicht einem Bergsteiger, der jeden Augenblick die höchste Kuppe zu erreichen wähnt, sobald er sie aber betritt, eine noch höhere ent- deckt. Doch ist das Leben an diesen wechselnden Hypothesen nur ganz indirekt beteiligt. Eine der verhängnisvollsten Verirrungen unserer Zeit ist die, welche uns dazu treibt, den sogenannten »Ergebnissen« der Wissenschaft ein Übergewicht in unseren Urteilen einzuräumen. Gewiss kann Wissen aufklärend wirken, das ist aber nicht immer der Fall, namentlich deswegen nicht, weil dieses Wissen ewig auf schwanken Füssen steht. Wie können denn einsichtsvolle Menschen bezweifeln, dass vieles, was wir heute zu wissen wähnen, in 100, 200, 500 Jahren als krasse Ignoranz belächelt werden wird? Manche Thatsachen mögen freilich schon heute als endgültig sichergestellt betrachtet werden; neues Wissen rückt aber dieselben Thatsachen in ein ganz neues Licht, verbindet sie zu früher nicht geahnten Figuren, verrückt sie in der Perspektive; das Urteil nach dem jeweiligen Stand der Wissenschaft richten, ist dasselbe als wenn ein Maler die Welt durch ein durchsichtiges, ewig wechselndes Kaleidoskop, statt mit dem blossen Auge betrachten wollte. Reine Wissenschaft (im Gegen- satz zur industriellen) ist ein edles Spielzeug; ihr grosser, geistiger und sittlicher Wert beruht zum nicht geringen Teil gerade darauf, dass sie nichts »nützt«; in dieser Beziehung ist sie der Kunst durch- aus analog, sie bedeutet das nach aussen gewandte Sinnen; und da die Natur unerschöpflich reich ist, führt sie dadurch dem Inneren immer neues Material zu, bereichert dessen Inventar an Vorstellungen, und bereitet der Phantasie eine neue Traumwelt als Ersatz für die allmählich verblassende alte. 1) Das Leben dagegen, rein als solches, 1) In ähnlicher Weise äussert sich der Physiker Lichtenberg: »Die Natur- lehre ist, für mich wenigstens, eine Art von sinking fund (Tilgungsfond) für die Religion, wenn die vorwitzige Vernunft Schulden macht.« (Fragmentarische Be- merkungen über physikalische Gegenstände, 15.)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/293>, abgerufen am 26.11.2024.