der Blick lange und liebend auf der Vergangenheit geruht hat, aus der unter so vielen Schmerzen die Gegenwart hervorgegangen ist, sobald das lebhafte Empfinden der grossen geschichtlichen Grundthat- sachen heftig widerstreitende Gefühle im Herzen in Bezug auf den heutigen Tag erregt hat: Furcht und Hoffnung, Empörung und Be- geisterung, alle in eine Zukunft hinausweisend, deren Gestaltung unser Werk sein muss und der wir nunmehr mit sehnsuchtsvoller Ungeduld entgegensehen, entgegenarbeiten -- da schrumpft das grosse, unübersehbare neunzehnte Jahrhundert auf ein verhältnismässig Ge- ringes zusammen; wir haben gar nicht mehr die Zeit, uns bei Einzel- heiten aufzuhalten, nur die grossen Züge wollen wir fest und klar vor Augen haben, damit wir wissen, wer wir sind und wohin unser Weg geht. Nunmehr ist die Perspektive für das gesteckte Ziel günstig; nunmehr kann der Einzelne sich heranwagen. Der Grundriss seines Werkes ist ihm so deutlich vorgezeichnet, dass er ihn nur getreulich nachzuzeichnen braucht.
Der Grundriss meines Werkes ist nun folgender. In dem ersten vorliegenden Band behandle ich die vorangegangenen acht- zehn Jahrhunderte unserer Zeitrechnung, wobei mancher Blick auch auf ferner zurückliegende Zeiten fällt; doch handelt es sich hierbei keineswegs um eine Geschichte der Vergangenheit, sondern einfach um jene Vergangenheit, welche heute noch lebendig ist; und zwar ist das so viel und die genaue, kritische Kenntnis davon ist für jedes Urteil über die Gegenwart so unentbehrlich, dass ich das Studium dieser "Grundlagen" unseres Säculums fast für das wichtigste Geschäft des ganzen Unternehmens halten möchte. Der zweite Band wäre dem 19. Jahrhundert gewidmet; natürlich kann es sich in einem derartigen Werk nur um die grossen leitenden Ideen handeln, und zwar wird diese Aufgabe durch den vorangegangenen ersten Band, in welchem das Auge immer wieder auf unser Jahrhundert gerichtet worden war, unendlich vereinfacht und erleichtert. Ein Anhang würde dem Versuch gelten, die Bedeutung des 19. Jahrhunderts an- nähernd zu bestimmen; dies kann nur durch den Vergleich geschehen, wozu wieder der erste Band den Boden bereitet hätte; hierdurch ent- steht aber ausserdem eine Art Ahnung der Zukunft, kein willkürliches Phantasiebild, sondern gleichsam ein Schatten, den die Gegenwart im Lichte der Vergangenheit wirft. Jetzt erst stünde das Jahrhundert ganz plastisch vor unseren Augen -- nicht in Gestalt einer Chronik oder eines Lexikons, sondern als ein lebendiges "körperhaftes" Gebilde.
Allgemeine Einleitung.
der Blick lange und liebend auf der Vergangenheit geruht hat, aus der unter so vielen Schmerzen die Gegenwart hervorgegangen ist, sobald das lebhafte Empfinden der grossen geschichtlichen Grundthat- sachen heftig widerstreitende Gefühle im Herzen in Bezug auf den heutigen Tag erregt hat: Furcht und Hoffnung, Empörung und Be- geisterung, alle in eine Zukunft hinausweisend, deren Gestaltung unser Werk sein muss und der wir nunmehr mit sehnsuchtsvoller Ungeduld entgegensehen, entgegenarbeiten — da schrumpft das grosse, unübersehbare neunzehnte Jahrhundert auf ein verhältnismässig Ge- ringes zusammen; wir haben gar nicht mehr die Zeit, uns bei Einzel- heiten aufzuhalten, nur die grossen Züge wollen wir fest und klar vor Augen haben, damit wir wissen, wer wir sind und wohin unser Weg geht. Nunmehr ist die Perspektive für das gesteckte Ziel günstig; nunmehr kann der Einzelne sich heranwagen. Der Grundriss seines Werkes ist ihm so deutlich vorgezeichnet, dass er ihn nur getreulich nachzuzeichnen braucht.
Der Grundriss meines Werkes ist nun folgender. In dem ersten vorliegenden Band behandle ich die vorangegangenen acht- zehn Jahrhunderte unserer Zeitrechnung, wobei mancher Blick auch auf ferner zurückliegende Zeiten fällt; doch handelt es sich hierbei keineswegs um eine Geschichte der Vergangenheit, sondern einfach um jene Vergangenheit, welche heute noch lebendig ist; und zwar ist das so viel und die genaue, kritische Kenntnis davon ist für jedes Urteil über die Gegenwart so unentbehrlich, dass ich das Studium dieser »Grundlagen« unseres Säculums fast für das wichtigste Geschäft des ganzen Unternehmens halten möchte. Der zweite Band wäre dem 19. Jahrhundert gewidmet; natürlich kann es sich in einem derartigen Werk nur um die grossen leitenden Ideen handeln, und zwar wird diese Aufgabe durch den vorangegangenen ersten Band, in welchem das Auge immer wieder auf unser Jahrhundert gerichtet worden war, unendlich vereinfacht und erleichtert. Ein Anhang würde dem Versuch gelten, die Bedeutung des 19. Jahrhunderts an- nähernd zu bestimmen; dies kann nur durch den Vergleich geschehen, wozu wieder der erste Band den Boden bereitet hätte; hierdurch ent- steht aber ausserdem eine Art Ahnung der Zukunft, kein willkürliches Phantasiebild, sondern gleichsam ein Schatten, den die Gegenwart im Lichte der Vergangenheit wirft. Jetzt erst stünde das Jahrhundert ganz plastisch vor unseren Augen — nicht in Gestalt einer Chronik oder eines Lexikons, sondern als ein lebendiges »körperhaftes« Gebilde.
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Allgemeine Einleitung.
der Blick lange und liebend auf der Vergangenheit geruht hat, aus
der unter so vielen Schmerzen die Gegenwart hervorgegangen ist,
sobald das lebhafte Empfinden der grossen geschichtlichen Grundthat-
sachen heftig widerstreitende Gefühle im Herzen in Bezug auf den
heutigen Tag erregt hat: Furcht und Hoffnung, Empörung und Be-
geisterung, alle in eine Zukunft hinausweisend, deren Gestaltung
unser Werk sein muss und der wir nunmehr mit sehnsuchtsvoller
Ungeduld entgegensehen, entgegenarbeiten — da schrumpft das grosse,
unübersehbare neunzehnte Jahrhundert auf ein verhältnismässig Ge-
ringes zusammen; wir haben gar nicht mehr die Zeit, uns bei Einzel-
heiten aufzuhalten, nur die grossen Züge wollen wir fest und klar
vor Augen haben, damit wir wissen, wer wir sind und wohin unser
Weg geht. Nunmehr ist die Perspektive für das gesteckte Ziel günstig;
nunmehr kann der Einzelne sich heranwagen. Der Grundriss seines
Werkes ist ihm so deutlich vorgezeichnet, dass er ihn nur getreulich
nachzuzeichnen braucht.
Der Grundriss meines Werkes ist nun folgender. In dem
ersten vorliegenden Band behandle ich die vorangegangenen acht-
zehn Jahrhunderte unserer Zeitrechnung, wobei mancher Blick auch
auf ferner zurückliegende Zeiten fällt; doch handelt es sich hierbei
keineswegs um eine Geschichte der Vergangenheit, sondern einfach
um jene Vergangenheit, welche heute noch lebendig ist; und zwar
ist das so viel und die genaue, kritische Kenntnis davon ist für
jedes Urteil über die Gegenwart so unentbehrlich, dass ich das
Studium dieser »Grundlagen« unseres Säculums fast für das wichtigste
Geschäft des ganzen Unternehmens halten möchte. Der zweite Band
wäre dem 19. Jahrhundert gewidmet; natürlich kann es sich in einem
derartigen Werk nur um die grossen leitenden Ideen handeln, und
zwar wird diese Aufgabe durch den vorangegangenen ersten Band, in
welchem das Auge immer wieder auf unser Jahrhundert gerichtet
worden war, unendlich vereinfacht und erleichtert. Ein Anhang
würde dem Versuch gelten, die Bedeutung des 19. Jahrhunderts an-
nähernd zu bestimmen; dies kann nur durch den Vergleich geschehen,
wozu wieder der erste Band den Boden bereitet hätte; hierdurch ent-
steht aber ausserdem eine Art Ahnung der Zukunft, kein willkürliches
Phantasiebild, sondern gleichsam ein Schatten, den die Gegenwart
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/28>, abgerufen am 16.02.2025.
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