Wer trat das Erbe des Altertums an? Diese Frage ist mindestens ebenso gewichtig wie die nach der Erbschaft selbst und womöglich noch verwickelter. Denn sie führt uns in das Studium der Rassen- probleme hinein, Probleme, welche die Wissenschaft des letzten Vierteljahrhunderts nicht gelöst, sondern im Gegenteil in ihrer vollen Unentwirrbarkeit aufgedeckt hat. Und doch hängt jedes wahre Ver- ständnis unseres Jahrhunderts von der klaren Beantwortung dieser Frage ab. Hier heisst es also zugleich kühn und vorsichtig sein, wollen wir der Mahnung meines Vorwortes eingedenk bleiben und zwischen jener Scylla einer fast unerreichbaren und in ihren bis- herigen Ergebnissen höchst problematischen Wissenschaft und der Charybdis unstatthafter, grundloser Verallgemeinerungen sicher hin- durchsteuern. Die Not zwingt uns, das Wagnis zu unternehmen.
Rom hatte den Schwerpunkt der Civilisation nach Westen verlegt. Dies erwies sich als eine jener unbewusst vollzogenen welt- historischen Thaten, die durch keine Gewalt rückgängig gemacht werden können. Der von Asien abgewandte Westen Europas sollte der Herd aller ferneren Civilisation und Kultur sein. Das geschah aber nur nach und nach. Zunächst war es lediglich die Politik, die sich immer mehr nach Westen und nach Norden wandte; geistig blieb Rom selbst lange in starker Abhängigkeit vom früheren östlichen Kulturzentrum. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung kommt ausser Rom nur was südlich und östlich von ihm gelegen ist, in geistiger Beziehung in Betracht: Alexandria, Ephesus, Antiochia, überhaupt Syrien, dann Griechenland mit Byzanz, sowie Karthago und die übrigen Städte aus der Africa vetus, das sind die Gegenden, wo die Erbschaft angetreten und lange verwaltet wurde, deren Einwohner sie späteren Zeiten und anderen Völkern übermittelten. Und gerade
EINLEITENDES.
Wer trat das Erbe des Altertums an? Diese Frage ist mindestens ebenso gewichtig wie die nach der Erbschaft selbst und womöglich noch verwickelter. Denn sie führt uns in das Studium der Rassen- probleme hinein, Probleme, welche die Wissenschaft des letzten Vierteljahrhunderts nicht gelöst, sondern im Gegenteil in ihrer vollen Unentwirrbarkeit aufgedeckt hat. Und doch hängt jedes wahre Ver- ständnis unseres Jahrhunderts von der klaren Beantwortung dieser Frage ab. Hier heisst es also zugleich kühn und vorsichtig sein, wollen wir der Mahnung meines Vorwortes eingedenk bleiben und zwischen jener Scylla einer fast unerreichbaren und in ihren bis- herigen Ergebnissen höchst problematischen Wissenschaft und der Charybdis unstatthafter, grundloser Verallgemeinerungen sicher hin- durchsteuern. Die Not zwingt uns, das Wagnis zu unternehmen.
Rom hatte den Schwerpunkt der Civilisation nach Westen verlegt. Dies erwies sich als eine jener unbewusst vollzogenen welt- historischen Thaten, die durch keine Gewalt rückgängig gemacht werden können. Der von Asien abgewandte Westen Europas sollte der Herd aller ferneren Civilisation und Kultur sein. Das geschah aber nur nach und nach. Zunächst war es lediglich die Politik, die sich immer mehr nach Westen und nach Norden wandte; geistig blieb Rom selbst lange in starker Abhängigkeit vom früheren östlichen Kulturzentrum. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung kommt ausser Rom nur was südlich und östlich von ihm gelegen ist, in geistiger Beziehung in Betracht: Alexandria, Ephesus, Antiochia, überhaupt Syrien, dann Griechenland mit Byzanz, sowie Karthago und die übrigen Städte aus der Africa vetus, das sind die Gegenden, wo die Erbschaft angetreten und lange verwaltet wurde, deren Einwohner sie späteren Zeiten und anderen Völkern übermittelten. Und gerade
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0278"n="[255]"/><divn="3"><head><hirendition="#b">EINLEITENDES.</hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">W</hi>er trat das Erbe des Altertums an? Diese Frage ist mindestens<lb/>
ebenso gewichtig wie die nach der Erbschaft selbst und womöglich<lb/>
noch verwickelter. Denn sie führt uns in das Studium der Rassen-<lb/>
probleme hinein, Probleme, welche die Wissenschaft des letzten<lb/>
Vierteljahrhunderts nicht gelöst, sondern im Gegenteil in ihrer vollen<lb/>
Unentwirrbarkeit aufgedeckt hat. Und doch hängt jedes wahre Ver-<lb/>
ständnis unseres Jahrhunderts von der klaren Beantwortung dieser<lb/>
Frage ab. Hier heisst es also zugleich kühn und vorsichtig sein,<lb/>
wollen wir der Mahnung meines Vorwortes eingedenk bleiben und<lb/>
zwischen jener Scylla einer fast unerreichbaren und in ihren bis-<lb/>
herigen Ergebnissen höchst problematischen Wissenschaft und der<lb/>
Charybdis unstatthafter, grundloser Verallgemeinerungen sicher hin-<lb/>
durchsteuern. Die Not zwingt uns, das Wagnis zu unternehmen.</p><lb/><p>Rom hatte den Schwerpunkt der Civilisation nach Westen<lb/>
verlegt. Dies erwies sich als eine jener unbewusst vollzogenen welt-<lb/>
historischen Thaten, die durch keine Gewalt rückgängig gemacht<lb/>
werden können. Der von Asien abgewandte Westen Europas sollte<lb/>
der Herd aller ferneren Civilisation und Kultur sein. Das geschah<lb/>
aber nur nach und nach. Zunächst war es lediglich die Politik, die<lb/>
sich immer mehr nach Westen und nach Norden wandte; geistig<lb/>
blieb Rom selbst lange in starker Abhängigkeit vom früheren östlichen<lb/>
Kulturzentrum. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung<lb/>
kommt ausser Rom nur was südlich und östlich von ihm gelegen<lb/>
ist, in geistiger Beziehung in Betracht: Alexandria, Ephesus, Antiochia,<lb/>
überhaupt Syrien, dann Griechenland mit Byzanz, sowie Karthago und<lb/>
die übrigen Städte aus der <hirendition="#i">Africa vetus,</hi> das sind die Gegenden, wo<lb/>
die Erbschaft angetreten und lange verwaltet wurde, deren Einwohner<lb/>
sie späteren Zeiten und anderen Völkern übermittelten. Und gerade<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[[255]/0278]
EINLEITENDES.
Wer trat das Erbe des Altertums an? Diese Frage ist mindestens
ebenso gewichtig wie die nach der Erbschaft selbst und womöglich
noch verwickelter. Denn sie führt uns in das Studium der Rassen-
probleme hinein, Probleme, welche die Wissenschaft des letzten
Vierteljahrhunderts nicht gelöst, sondern im Gegenteil in ihrer vollen
Unentwirrbarkeit aufgedeckt hat. Und doch hängt jedes wahre Ver-
ständnis unseres Jahrhunderts von der klaren Beantwortung dieser
Frage ab. Hier heisst es also zugleich kühn und vorsichtig sein,
wollen wir der Mahnung meines Vorwortes eingedenk bleiben und
zwischen jener Scylla einer fast unerreichbaren und in ihren bis-
herigen Ergebnissen höchst problematischen Wissenschaft und der
Charybdis unstatthafter, grundloser Verallgemeinerungen sicher hin-
durchsteuern. Die Not zwingt uns, das Wagnis zu unternehmen.
Rom hatte den Schwerpunkt der Civilisation nach Westen
verlegt. Dies erwies sich als eine jener unbewusst vollzogenen welt-
historischen Thaten, die durch keine Gewalt rückgängig gemacht
werden können. Der von Asien abgewandte Westen Europas sollte
der Herd aller ferneren Civilisation und Kultur sein. Das geschah
aber nur nach und nach. Zunächst war es lediglich die Politik, die
sich immer mehr nach Westen und nach Norden wandte; geistig
blieb Rom selbst lange in starker Abhängigkeit vom früheren östlichen
Kulturzentrum. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung
kommt ausser Rom nur was südlich und östlich von ihm gelegen
ist, in geistiger Beziehung in Betracht: Alexandria, Ephesus, Antiochia,
überhaupt Syrien, dann Griechenland mit Byzanz, sowie Karthago und
die übrigen Städte aus der Africa vetus, das sind die Gegenden, wo
die Erbschaft angetreten und lange verwaltet wurde, deren Einwohner
sie späteren Zeiten und anderen Völkern übermittelten. Und gerade
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. [255]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/278>, abgerufen am 19.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.