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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.
bestimmten Volkes im Laufe einer Jahrhunderte währenden geschicht-
lichen Entwickelung darstellen: das ist das Jüdische in Christus.
Schon in den Kapiteln über hellenische Kunst und römisches Recht
machte ich auf die Macht der Ideen aufmerksam; hier haben wir
wieder ein leuchtendes Beispiel davon. Wer in der jüdischen Ge-
dankenwelt lebte, konnte sich der Macht jüdischer Ideen nicht ent-
ziehen. Und brachte er auch der Welt eine ganz neue Botschaft,
wirkte auch sein Leben wie das Anbrechen eines neuen Morgens,
war seine Persönlichkeit auch eine so göttlich grosse, dass sie uns
eine Kraft im menschlichen Innern entdeckte, fähig -- wenn das je
begriffen würde -- die Menschheit völlig umzuwandeln: so waren doch
nichtsdestoweniger die Persönlichkeit, das Leben und die Botschaft an
die grundlegenden Ideen des Judentums gebunden; nur in diesen
konnten sie sich offenbaren, bethätigen und kundthun.



Ich hoffe, mein Zweck wird erreicht sein. Von der BetrachtungDas 19. Jahr-
hundert.

der Persönlichkeit in ihrer individuellen, autonomen Bedeutung aus-
gehend, habe ich nach und nach den Kreis erweitert, um die Lebens-
fäden aufzuzeigen, die sie mit der Umgebung verbinden. Hierbei war
eine gewisse Ausführlichkeit unentbehrlich; den einzigen Gegenstand
dieses Buches, die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, habe ich jedoch
nicht einen Moment aus den Augen verloren. Denn wie sollte ich,
Einzelner, mich chronistisch oder encyklopädisch an unser Säculum
heranwagen? Die Musen mögen mich vor einem derartigen Wahn-
witz bewahren! Dagegen soll ich versuchen, den leitenden Ideen, den
bildenden Gedanken unserer Zeit soweit möglich auf die Spur zu
kommen; diese Ideen fallen aber nicht vom Himmel herab, sondern
knüpfen an Vergangenes an; neuer Wein wird gar oft in alte Schläuche
gegossen, und uralter, sauerer Wein, den kein Mensch kosten würde,
wenn er dessen Ursprung kennte, in funkelnagelneue; überhaupt lastet
auf einer so spätgeborenen Kultur wie der unseren, noch dazu in einer
Zeit der atemlosen Hast, wo die Menschen zu viel lernen müssen, um
viel denken zu können, der Fluch der Konfusion. Wollen wir
Klarheit über uns selber gewinnen, so müssen wir vor allem in den
Grundgedanken und -Vorstellungen klar sehen, die wir von den Alt-
vordern geerbt haben. Wie äusserst verwickelt das hellenische Erbe,
wie eigentümlich widerspruchsvoll das römische, zugleich wie tief ein-
greifend in unser heutiges Leben und Denken, hoffe ich recht fühlbar

Die Erscheinung Christi.
bestimmten Volkes im Laufe einer Jahrhunderte währenden geschicht-
lichen Entwickelung darstellen: das ist das Jüdische in Christus.
Schon in den Kapiteln über hellenische Kunst und römisches Recht
machte ich auf die Macht der Ideen aufmerksam; hier haben wir
wieder ein leuchtendes Beispiel davon. Wer in der jüdischen Ge-
dankenwelt lebte, konnte sich der Macht jüdischer Ideen nicht ent-
ziehen. Und brachte er auch der Welt eine ganz neue Botschaft,
wirkte auch sein Leben wie das Anbrechen eines neuen Morgens,
war seine Persönlichkeit auch eine so göttlich grosse, dass sie uns
eine Kraft im menschlichen Innern entdeckte, fähig — wenn das je
begriffen würde — die Menschheit völlig umzuwandeln: so waren doch
nichtsdestoweniger die Persönlichkeit, das Leben und die Botschaft an
die grundlegenden Ideen des Judentums gebunden; nur in diesen
konnten sie sich offenbaren, bethätigen und kundthun.



Ich hoffe, mein Zweck wird erreicht sein. Von der BetrachtungDas 19. Jahr-
hundert.

der Persönlichkeit in ihrer individuellen, autonomen Bedeutung aus-
gehend, habe ich nach und nach den Kreis erweitert, um die Lebens-
fäden aufzuzeigen, die sie mit der Umgebung verbinden. Hierbei war
eine gewisse Ausführlichkeit unentbehrlich; den einzigen Gegenstand
dieses Buches, die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, habe ich jedoch
nicht einen Moment aus den Augen verloren. Denn wie sollte ich,
Einzelner, mich chronistisch oder encyklopädisch an unser Säculum
heranwagen? Die Musen mögen mich vor einem derartigen Wahn-
witz bewahren! Dagegen soll ich versuchen, den leitenden Ideen, den
bildenden Gedanken unserer Zeit soweit möglich auf die Spur zu
kommen; diese Ideen fallen aber nicht vom Himmel herab, sondern
knüpfen an Vergangenes an; neuer Wein wird gar oft in alte Schläuche
gegossen, und uralter, sauerer Wein, den kein Mensch kosten würde,
wenn er dessen Ursprung kennte, in funkelnagelneue; überhaupt lastet
auf einer so spätgeborenen Kultur wie der unseren, noch dazu in einer
Zeit der atemlosen Hast, wo die Menschen zu viel lernen müssen, um
viel denken zu können, der Fluch der Konfusion. Wollen wir
Klarheit über uns selber gewinnen, so müssen wir vor allem in den
Grundgedanken und -Vorstellungen klar sehen, die wir von den Alt-
vordern geerbt haben. Wie äusserst verwickelt das hellenische Erbe,
wie eigentümlich widerspruchsvoll das römische, zugleich wie tief ein-
greifend in unser heutiges Leben und Denken, hoffe ich recht fühlbar

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[249/0272] Die Erscheinung Christi. bestimmten Volkes im Laufe einer Jahrhunderte währenden geschicht- lichen Entwickelung darstellen: das ist das Jüdische in Christus. Schon in den Kapiteln über hellenische Kunst und römisches Recht machte ich auf die Macht der Ideen aufmerksam; hier haben wir wieder ein leuchtendes Beispiel davon. Wer in der jüdischen Ge- dankenwelt lebte, konnte sich der Macht jüdischer Ideen nicht ent- ziehen. Und brachte er auch der Welt eine ganz neue Botschaft, wirkte auch sein Leben wie das Anbrechen eines neuen Morgens, war seine Persönlichkeit auch eine so göttlich grosse, dass sie uns eine Kraft im menschlichen Innern entdeckte, fähig — wenn das je begriffen würde — die Menschheit völlig umzuwandeln: so waren doch nichtsdestoweniger die Persönlichkeit, das Leben und die Botschaft an die grundlegenden Ideen des Judentums gebunden; nur in diesen konnten sie sich offenbaren, bethätigen und kundthun. Ich hoffe, mein Zweck wird erreicht sein. Von der Betrachtung der Persönlichkeit in ihrer individuellen, autonomen Bedeutung aus- gehend, habe ich nach und nach den Kreis erweitert, um die Lebens- fäden aufzuzeigen, die sie mit der Umgebung verbinden. Hierbei war eine gewisse Ausführlichkeit unentbehrlich; den einzigen Gegenstand dieses Buches, die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, habe ich jedoch nicht einen Moment aus den Augen verloren. Denn wie sollte ich, Einzelner, mich chronistisch oder encyklopädisch an unser Säculum heranwagen? Die Musen mögen mich vor einem derartigen Wahn- witz bewahren! Dagegen soll ich versuchen, den leitenden Ideen, den bildenden Gedanken unserer Zeit soweit möglich auf die Spur zu kommen; diese Ideen fallen aber nicht vom Himmel herab, sondern knüpfen an Vergangenes an; neuer Wein wird gar oft in alte Schläuche gegossen, und uralter, sauerer Wein, den kein Mensch kosten würde, wenn er dessen Ursprung kennte, in funkelnagelneue; überhaupt lastet auf einer so spätgeborenen Kultur wie der unseren, noch dazu in einer Zeit der atemlosen Hast, wo die Menschen zu viel lernen müssen, um viel denken zu können, der Fluch der Konfusion. Wollen wir Klarheit über uns selber gewinnen, so müssen wir vor allem in den Grundgedanken und -Vorstellungen klar sehen, die wir von den Alt- vordern geerbt haben. Wie äusserst verwickelt das hellenische Erbe, wie eigentümlich widerspruchsvoll das römische, zugleich wie tief ein- greifend in unser heutiges Leben und Denken, hoffe ich recht fühlbar Das 19. Jahr- hundert.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/272>, abgerufen am 25.11.2024.