Schwäche, denn sobald er das Gebiet des thatsächlich Beobachteten verlässt, um die Mannigfaltigkeit der Erfahrung zur Einheit der Vor- stellung und des Begriffes zu reduzieren, hängt er in Wahrheit an Fäden der Abstraktion im leeren Raume. Dagegen steht der Künstler im Mittelpunkt der Welt (das heisst also seiner Welt), und so weit seine Sinne reichen, so weit reicht auch seine Gestaltungskraft; denn diese ist ja die Bethätigung seines individuellen Daseins in lebendiger Wechselwirkung mit der Umgebung. Deswegen darf man ihm aber auch aus seiner "Subjektivität" keinen Vorwurf machen, denn sie ist die Grundbedingung seines Schaffens. -- Nun handelt es sich aber im vorliegenden Falle um einen historisch genau umschriebenen und ewig festgebannten Gegenstand. Unwahrheit wäre lächerlich, Will- kür unerträglich; der Verfasser darf also nicht mit Michelangelo sprechen: in dieses Blatt, in diesen Stein kommt kein Inhalt, den ich nicht hineinlege:
in pietra od in candido foglio Che nulla ha dentro, et evvi ci ch'io voglio!
Im Gegenteil, unbedingte Achtung vor den Thatsachen muss sein Leitstern sein. Er darf nicht Künstler im Sinne des freischöpferischen Genies sein, sondern nur in dem beschränkten Verstande eines an die Methoden der Kunst sich Anlehnenden. Gestalten soll er, doch nur das, was da ist, nicht das, was seine Phantasie ihm etwa vorspiegelt. Geschichtsphilosophie ist eine Wüste, Geschichtsphantasie ein Narren- haus. Darum müssen wir von jenem künstlerischen Gestalter eine durchaus positive Geistesrichtung und ein streng wissenschaftliches Gewissen fordern. Ehe er meint, muss er wissen; ehe er gestaltet, muss er prüfen. Er darf sich nicht Herr wähnen, er ist Diener: Diener der Wahrheit.
Obige Bemerkungen reichen wohl hin, um über die allgemeinen Prinzipien zu orientieren, welche bei dem Entwurf des vorliegenden Werkes massgebend waren. Jetzt wollen wir aus den luftigen Höhen der philosophischen Grundsätze zur Erde niedersteigen. Ist die Ge- staltung des vorhandenen Materials in allen derartigen Fällen die einzige Aufgabe, die der Einzelne sich zutrauen darf, wie hat er hier, in diesem besonderen Falle, die Gestaltung zu versuchen?
Das neunzehnte Jahrhundert! Das Thema dünkt uner- schöpflich; ist es auch. Nur dadurch konnte es "gebändigt" werden, dass es weiter gefasst wurde. Das scheint paradox, ist aber wahr. Sobald
Allgemeine Einleitung.
Schwäche, denn sobald er das Gebiet des thatsächlich Beobachteten verlässt, um die Mannigfaltigkeit der Erfahrung zur Einheit der Vor- stellung und des Begriffes zu reduzieren, hängt er in Wahrheit an Fäden der Abstraktion im leeren Raume. Dagegen steht der Künstler im Mittelpunkt der Welt (das heisst also seiner Welt), und so weit seine Sinne reichen, so weit reicht auch seine Gestaltungskraft; denn diese ist ja die Bethätigung seines individuellen Daseins in lebendiger Wechselwirkung mit der Umgebung. Deswegen darf man ihm aber auch aus seiner »Subjektivität« keinen Vorwurf machen, denn sie ist die Grundbedingung seines Schaffens. — Nun handelt es sich aber im vorliegenden Falle um einen historisch genau umschriebenen und ewig festgebannten Gegenstand. Unwahrheit wäre lächerlich, Will- kür unerträglich; der Verfasser darf also nicht mit Michelangelo sprechen: in dieses Blatt, in diesen Stein kommt kein Inhalt, den ich nicht hineinlege:
in pietra od in candido foglio Che nulla ha dentro, et evvi ci ch’io voglio!
Im Gegenteil, unbedingte Achtung vor den Thatsachen muss sein Leitstern sein. Er darf nicht Künstler im Sinne des freischöpferischen Genies sein, sondern nur in dem beschränkten Verstande eines an die Methoden der Kunst sich Anlehnenden. Gestalten soll er, doch nur das, was da ist, nicht das, was seine Phantasie ihm etwa vorspiegelt. Geschichtsphilosophie ist eine Wüste, Geschichtsphantasie ein Narren- haus. Darum müssen wir von jenem künstlerischen Gestalter eine durchaus positive Geistesrichtung und ein streng wissenschaftliches Gewissen fordern. Ehe er meint, muss er wissen; ehe er gestaltet, muss er prüfen. Er darf sich nicht Herr wähnen, er ist Diener: Diener der Wahrheit.
Obige Bemerkungen reichen wohl hin, um über die allgemeinen Prinzipien zu orientieren, welche bei dem Entwurf des vorliegenden Werkes massgebend waren. Jetzt wollen wir aus den luftigen Höhen der philosophischen Grundsätze zur Erde niedersteigen. Ist die Ge- staltung des vorhandenen Materials in allen derartigen Fällen die einzige Aufgabe, die der Einzelne sich zutrauen darf, wie hat er hier, in diesem besonderen Falle, die Gestaltung zu versuchen?
Das neunzehnte Jahrhundert! Das Thema dünkt uner- schöpflich; ist es auch. Nur dadurch konnte es »gebändigt« werden, dass es weiter gefasst wurde. Das scheint paradox, ist aber wahr. Sobald
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Allgemeine Einleitung.
Schwäche, denn sobald er das Gebiet des thatsächlich Beobachteten
verlässt, um die Mannigfaltigkeit der Erfahrung zur Einheit der Vor-
stellung und des Begriffes zu reduzieren, hängt er in Wahrheit an
Fäden der Abstraktion im leeren Raume. Dagegen steht der Künstler
im Mittelpunkt der Welt (das heisst also seiner Welt), und so weit
seine Sinne reichen, so weit reicht auch seine Gestaltungskraft; denn
diese ist ja die Bethätigung seines individuellen Daseins in lebendiger
Wechselwirkung mit der Umgebung. Deswegen darf man ihm aber
auch aus seiner »Subjektivität« keinen Vorwurf machen, denn sie ist
die Grundbedingung seines Schaffens. — Nun handelt es sich aber
im vorliegenden Falle um einen historisch genau umschriebenen und
ewig festgebannten Gegenstand. Unwahrheit wäre lächerlich, Will-
kür unerträglich; der Verfasser darf also nicht mit Michelangelo
sprechen: in dieses Blatt, in diesen Stein kommt kein Inhalt, den
ich nicht hineinlege:
in pietra od in candido foglio
Che nulla ha dentro, et evvi ci ch’io voglio!
Im Gegenteil, unbedingte Achtung vor den Thatsachen muss sein
Leitstern sein. Er darf nicht Künstler im Sinne des freischöpferischen
Genies sein, sondern nur in dem beschränkten Verstande eines an die
Methoden der Kunst sich Anlehnenden. Gestalten soll er, doch nur
das, was da ist, nicht das, was seine Phantasie ihm etwa vorspiegelt.
Geschichtsphilosophie ist eine Wüste, Geschichtsphantasie ein Narren-
haus. Darum müssen wir von jenem künstlerischen Gestalter eine
durchaus positive Geistesrichtung und ein streng wissenschaftliches
Gewissen fordern. Ehe er meint, muss er wissen; ehe er gestaltet,
muss er prüfen. Er darf sich nicht Herr wähnen, er ist Diener:
Diener der Wahrheit.
Obige Bemerkungen reichen wohl hin, um über die allgemeinen
Prinzipien zu orientieren, welche bei dem Entwurf des vorliegenden
Werkes massgebend waren. Jetzt wollen wir aus den luftigen Höhen
der philosophischen Grundsätze zur Erde niedersteigen. Ist die Ge-
staltung des vorhandenen Materials in allen derartigen Fällen die einzige
Aufgabe, die der Einzelne sich zutrauen darf, wie hat er hier, in diesem
besonderen Falle, die Gestaltung zu versuchen?
Das neunzehnte Jahrhundert! Das Thema dünkt uner-
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/27>, abgerufen am 23.07.2024.
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