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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.
dass jeden Augenblick ein Retter vom Himmel erscheinen könnte und
müsste. An keinem anderen Ort der Erde hätte ein einziger Mensch
diese, wenn auch noch so missverständnisvolle Ahnung von der Welt-
bedeutung Christi haben können. Der Heiland wäre ein Mensch unter
Menschen geblieben. Und insofern finde ich, dass die Tausende, die
bald nachher "Kreuzige ihn, kreuzige ihn" schrieen, ebensoviel Ver-
ständnis bewiesen, wie diejenigen, die der Bergpredigt andächtig ge-
lauscht hatten. Pilatus, sonst ein harter, grausamer Richter, konnte
keine Schuld an Christus finden;1) in Hellas und in Rom wäre dieser
als ein heiliger Mann verehrt worden. Der Jude dagegen, der einzig
in der Geschichte lebte, dem der "heidnische" Begriff der Sittlich-
keit und Heiligkeit fremd war, da er nur ein "Gesetz" kannte, und

fallend ist denn auch, wie diese Messiaserwartung, wo sie überhaupt vorhanden
war, beständig die Gestalt wechselte: ein Mal sollte ein zweiter König David kommen,
ein andres Mal zielte die Vorstellung nur auf jüdische Weltherrschaft im Allge-
meinen, dann wieder ist es Gott selber mit seinem himmlischen Gericht, "der den
bisherigen Gewalthabern auf einen Schlag ein Ende macht und dem Volk Israel
unvergängliche Herrschaft, ein allumfassendes Reich giebt, an dem auch die wieder-
erweckten Gerechten früherer Zeiten teilnehmen, während die Abtrünnigen zu ewiger
Schmach verurteilt werden" (vergl. Karl Müller: Kirchengeschichte, 1, 15) -- andere
Juden wieder streiten, ob der Messias ein Ben-David oder ein Ben-Joseph
sein werde, Manche glauben, es würden ihrer Zwei sein, noch Andre sind der An-
sicht, er werde in der römischen Diaspora geboren werden; nie und nirgends
findet sich aber der Gedanke an einen leidenden, durch seinen Tod erlösenden
Messias (siehe Stanton, S. 122 -- 124). Die besten, die gebildetsten und die
frömmsten Juden haben sich überhaupt niemals auf derartige apokalyptische Wahn-
vorstellungen eingelassen. Im Talmud lesen wir (Sabbath, Abschn. 6): "Es ist
zwischen der gegenwärtigen und der messianischen Zeit kein Unterschied, als dass
der Druck, unter dem Israel bis dahin schmachtet, aufhört." (Dagegen sehe man
im Traktat Sanhedrin des babylonischen Talmuds, fol. 966 ff., das wüste Durcheinander
und die durchgängige Puerilität der messianischen Vorstellungen). Ich meine nun
in meinen obigen Ausführungen den Kern der Frage getroffen zu haben: bei einer
durchaus historischen Religion wie die jüdische, ist der sichere Besitz der Zukunft
eine ebenso unabweisbare Notwendigkeit wie der sichere Besitz der Vergangen-
heit; von den frühesten Zeiten an sehen wir diesen Gedanken an die Zukunft die
Juden beseelen, er beseelt sie noch heute; je nach den Einflüssen der Umgebung
verlieh das phantasiearme Volk seinen Erwartungen verschiedene Formen, wesent-
lich ist einzig die felsenfeste Überzeugung, die sie niemals verliess, die Juden
würden einmal die Welt beherrschen. Dies ist eben ein Bestandteil ihres Charakters,
die sichtbare Hinausprojicierung ihres innersten Wesens. Es ist ihr Ersatz für
Mythologie.
1) Tertullian macht dazu die reizend naive Bemerkung: "Pilatus war
bereits im Herzen Christ!" (Apologeticus, XXI).

Die Erscheinung Christi.
dass jeden Augenblick ein Retter vom Himmel erscheinen könnte und
müsste. An keinem anderen Ort der Erde hätte ein einziger Mensch
diese, wenn auch noch so missverständnisvolle Ahnung von der Welt-
bedeutung Christi haben können. Der Heiland wäre ein Mensch unter
Menschen geblieben. Und insofern finde ich, dass die Tausende, die
bald nachher »Kreuzige ihn, kreuzige ihn« schrieen, ebensoviel Ver-
ständnis bewiesen, wie diejenigen, die der Bergpredigt andächtig ge-
lauscht hatten. Pilatus, sonst ein harter, grausamer Richter, konnte
keine Schuld an Christus finden;1) in Hellas und in Rom wäre dieser
als ein heiliger Mann verehrt worden. Der Jude dagegen, der einzig
in der Geschichte lebte, dem der »heidnische« Begriff der Sittlich-
keit und Heiligkeit fremd war, da er nur ein »Gesetz« kannte, und

fallend ist denn auch, wie diese Messiaserwartung, wo sie überhaupt vorhanden
war, beständig die Gestalt wechselte: ein Mal sollte ein zweiter König David kommen,
ein andres Mal zielte die Vorstellung nur auf jüdische Weltherrschaft im Allge-
meinen, dann wieder ist es Gott selber mit seinem himmlischen Gericht, »der den
bisherigen Gewalthabern auf einen Schlag ein Ende macht und dem Volk Israel
unvergängliche Herrschaft, ein allumfassendes Reich giebt, an dem auch die wieder-
erweckten Gerechten früherer Zeiten teilnehmen, während die Abtrünnigen zu ewiger
Schmach verurteilt werden« (vergl. Karl Müller: Kirchengeschichte, 1, 15) — andere
Juden wieder streiten, ob der Messias ein Ben-David oder ein Ben-Joseph
sein werde, Manche glauben, es würden ihrer Zwei sein, noch Andre sind der An-
sicht, er werde in der römischen Diaspora geboren werden; nie und nirgends
findet sich aber der Gedanke an einen leidenden, durch seinen Tod erlösenden
Messias (siehe Stanton, S. 122 — 124). Die besten, die gebildetsten und die
frömmsten Juden haben sich überhaupt niemals auf derartige apokalyptische Wahn-
vorstellungen eingelassen. Im Talmud lesen wir (Sabbath, Abschn. 6): »Es ist
zwischen der gegenwärtigen und der messianischen Zeit kein Unterschied, als dass
der Druck, unter dem Israel bis dahin schmachtet, aufhört.« (Dagegen sehe man
im Traktat Sanhedrin des babylonischen Talmuds, fol. 966 ff., das wüste Durcheinander
und die durchgängige Puerilität der messianischen Vorstellungen). Ich meine nun
in meinen obigen Ausführungen den Kern der Frage getroffen zu haben: bei einer
durchaus historischen Religion wie die jüdische, ist der sichere Besitz der Zukunft
eine ebenso unabweisbare Notwendigkeit wie der sichere Besitz der Vergangen-
heit; von den frühesten Zeiten an sehen wir diesen Gedanken an die Zukunft die
Juden beseelen, er beseelt sie noch heute; je nach den Einflüssen der Umgebung
verlieh das phantasiearme Volk seinen Erwartungen verschiedene Formen, wesent-
lich ist einzig die felsenfeste Überzeugung, die sie niemals verliess, die Juden
würden einmal die Welt beherrschen. Dies ist eben ein Bestandteil ihres Charakters,
die sichtbare Hinausprojicierung ihres innersten Wesens. Es ist ihr Ersatz für
Mythologie.
1) Tertullian macht dazu die reizend naive Bemerkung: »Pilatus war
bereits im Herzen Christ!« (Apologeticus, XXI).
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[239/0262] Die Erscheinung Christi. dass jeden Augenblick ein Retter vom Himmel erscheinen könnte und müsste. An keinem anderen Ort der Erde hätte ein einziger Mensch diese, wenn auch noch so missverständnisvolle Ahnung von der Welt- bedeutung Christi haben können. Der Heiland wäre ein Mensch unter Menschen geblieben. Und insofern finde ich, dass die Tausende, die bald nachher »Kreuzige ihn, kreuzige ihn« schrieen, ebensoviel Ver- ständnis bewiesen, wie diejenigen, die der Bergpredigt andächtig ge- lauscht hatten. Pilatus, sonst ein harter, grausamer Richter, konnte keine Schuld an Christus finden; 1) in Hellas und in Rom wäre dieser als ein heiliger Mann verehrt worden. Der Jude dagegen, der einzig in der Geschichte lebte, dem der »heidnische« Begriff der Sittlich- keit und Heiligkeit fremd war, da er nur ein »Gesetz« kannte, und 1) 1) Tertullian macht dazu die reizend naive Bemerkung: »Pilatus war bereits im Herzen Christ!« (Apologeticus, XXI). 1) fallend ist denn auch, wie diese Messiaserwartung, wo sie überhaupt vorhanden war, beständig die Gestalt wechselte: ein Mal sollte ein zweiter König David kommen, ein andres Mal zielte die Vorstellung nur auf jüdische Weltherrschaft im Allge- meinen, dann wieder ist es Gott selber mit seinem himmlischen Gericht, »der den bisherigen Gewalthabern auf einen Schlag ein Ende macht und dem Volk Israel unvergängliche Herrschaft, ein allumfassendes Reich giebt, an dem auch die wieder- erweckten Gerechten früherer Zeiten teilnehmen, während die Abtrünnigen zu ewiger Schmach verurteilt werden« (vergl. Karl Müller: Kirchengeschichte, 1, 15) — andere Juden wieder streiten, ob der Messias ein Ben-David oder ein Ben-Joseph sein werde, Manche glauben, es würden ihrer Zwei sein, noch Andre sind der An- sicht, er werde in der römischen Diaspora geboren werden; nie und nirgends findet sich aber der Gedanke an einen leidenden, durch seinen Tod erlösenden Messias (siehe Stanton, S. 122 — 124). Die besten, die gebildetsten und die frömmsten Juden haben sich überhaupt niemals auf derartige apokalyptische Wahn- vorstellungen eingelassen. Im Talmud lesen wir (Sabbath, Abschn. 6): »Es ist zwischen der gegenwärtigen und der messianischen Zeit kein Unterschied, als dass der Druck, unter dem Israel bis dahin schmachtet, aufhört.« (Dagegen sehe man im Traktat Sanhedrin des babylonischen Talmuds, fol. 966 ff., das wüste Durcheinander und die durchgängige Puerilität der messianischen Vorstellungen). Ich meine nun in meinen obigen Ausführungen den Kern der Frage getroffen zu haben: bei einer durchaus historischen Religion wie die jüdische, ist der sichere Besitz der Zukunft eine ebenso unabweisbare Notwendigkeit wie der sichere Besitz der Vergangen- heit; von den frühesten Zeiten an sehen wir diesen Gedanken an die Zukunft die Juden beseelen, er beseelt sie noch heute; je nach den Einflüssen der Umgebung verlieh das phantasiearme Volk seinen Erwartungen verschiedene Formen, wesent- lich ist einzig die felsenfeste Überzeugung, die sie niemals verliess, die Juden würden einmal die Welt beherrschen. Dies ist eben ein Bestandteil ihres Charakters, die sichtbare Hinausprojicierung ihres innersten Wesens. Es ist ihr Ersatz für Mythologie.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/262>, abgerufen am 24.11.2024.