Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Das Erbe der alten Welt. sprechungen und Vorhersagungen nicht eingetroffen,1) das konnteimmer leicht erklärt werden; der Wille ist nicht einsichtsvoll, er lässt nicht locker was seine Hand hält, und wäre es auch nur ein Phantom; je weniger bisher eingetroffen war, um so reicher erschien die Zukunft; und so Vieles hatte man schwarz auf weiss (namentlich in der Legende des Exodus), dass der Zweifel nicht aufkommen konnte. Was man den Buchstabenglauben der Juden nennt, ist doch ein ganz anderes Ding als der dogmatische Glaube der Christen: es ist nicht ein Glaube an abstrakte, unvorstellbare Mysterien und an allerhand mythologische Vorstellungen, sondern etwas durchaus Konkretes, Ge- schichtliches. Das Verhältnis der Juden zu ihrem Gott ist von Beginn an ein politisches.2) Jahve verspricht ihnen die Herrschaft der Welt -- unter gewissen Bedingungen; und ihr Geschichtswerk ist ein solches Wunder kunstreicher Struktur, dass die Juden, trotz des elendesten, jämmerlichsten Schicksals (als Volk), von dem die Welt- annalen zu berichten wissen -- kaum dass sie ein einziges Mal, unter David und Salomon, ein halbes Jahrhundert relativen Wohlstandes und geordneter Verhältnisse genossen -- dennoch ihre Vergangenheit in den glühendsten Farben erblicken, überall die schützende Hand Gottes wahrnehmen, ausgebreitet über sein auserwähltes Volk, über die "einzigen Menschen im wahren Sinne"; überall also historische Beweise für die Wahrheit ihres Glaubens, woraus sie dann die Zu- versicht schöpfen, dass das vor vielen Jahrtausenden dem Abraham Verheissene im vollen Umfang noch eintreffen wird. Die göttliche Verheissung aber war, wie gesagt, an Bedingungen geknüpft. Man konnte nicht im Hause herumgehen, nicht essen und trinken, nicht im Felde spazieren, ohne hundert Gebote zu gedenken, von deren Erfüllung das Schicksal der Nation abhing. Wie der Psalmist vom Juden singt (Psalm I, 2): Jahve's Gebote sind seine Lust, 1) Zum Beispiel gleich als erstes das Versprechen an Abraham: "das Land Canaan will ich dir zu ewiger Besitzung geben." 2) Vergl. hierzu Robertson Smith: The Prophets of Israel, p. 70 und 133. 3) In der Sippurim betitelten Sammlung jüdischer Volkssagen und Erzählungen
wird öfters erwähnt, dass der gewöhnliche (ungelehrte) Jude ausser den zehn Geboten, noch sechshundert und dreizehn Gesetze auswendig zu lernen hat. Der Talmud aber lehrt dreizehntausend sechshundert Gesetze, deren Befolgung göttliches Gebot ist! (siehe Dr. Emanuel Schreiber: Der Talmud vom Standpunkte des modernen Judentums). Das Erbe der alten Welt. sprechungen und Vorhersagungen nicht eingetroffen,1) das konnteimmer leicht erklärt werden; der Wille ist nicht einsichtsvoll, er lässt nicht locker was seine Hand hält, und wäre es auch nur ein Phantom; je weniger bisher eingetroffen war, um so reicher erschien die Zukunft; und so Vieles hatte man schwarz auf weiss (namentlich in der Legende des Exodus), dass der Zweifel nicht aufkommen konnte. Was man den Buchstabenglauben der Juden nennt, ist doch ein ganz anderes Ding als der dogmatische Glaube der Christen: es ist nicht ein Glaube an abstrakte, unvorstellbare Mysterien und an allerhand mythologische Vorstellungen, sondern etwas durchaus Konkretes, Ge- schichtliches. Das Verhältnis der Juden zu ihrem Gott ist von Beginn an ein politisches.2) Jahve verspricht ihnen die Herrschaft der Welt — unter gewissen Bedingungen; und ihr Geschichtswerk ist ein solches Wunder kunstreicher Struktur, dass die Juden, trotz des elendesten, jämmerlichsten Schicksals (als Volk), von dem die Welt- annalen zu berichten wissen — kaum dass sie ein einziges Mal, unter David und Salomon, ein halbes Jahrhundert relativen Wohlstandes und geordneter Verhältnisse genossen — dennoch ihre Vergangenheit in den glühendsten Farben erblicken, überall die schützende Hand Gottes wahrnehmen, ausgebreitet über sein auserwähltes Volk, über die »einzigen Menschen im wahren Sinne«; überall also historische Beweise für die Wahrheit ihres Glaubens, woraus sie dann die Zu- versicht schöpfen, dass das vor vielen Jahrtausenden dem Abraham Verheissene im vollen Umfang noch eintreffen wird. Die göttliche Verheissung aber war, wie gesagt, an Bedingungen geknüpft. Man konnte nicht im Hause herumgehen, nicht essen und trinken, nicht im Felde spazieren, ohne hundert Gebote zu gedenken, von deren Erfüllung das Schicksal der Nation abhing. Wie der Psalmist vom Juden singt (Psalm I, 2): Jahve’s Gebote sind seine Lust, 1) Zum Beispiel gleich als erstes das Versprechen an Abraham: »das Land Canaan will ich dir zu ewiger Besitzung geben.« 2) Vergl. hierzu Robertson Smith: The Prophets of Israel, p. 70 und 133. 3) In der Sippurim betitelten Sammlung jüdischer Volkssagen und Erzählungen
wird öfters erwähnt, dass der gewöhnliche (ungelehrte) Jude ausser den zehn Geboten, noch sechshundert und dreizehn Gesetze auswendig zu lernen hat. Der Talmud aber lehrt dreizehntausend sechshundert Gesetze, deren Befolgung göttliches Gebot ist! (siehe Dr. Emanuel Schreiber: Der Talmud vom Standpunkte des modernen Judentums). <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0259" n="236"/><fw place="top" type="header">Das Erbe der alten Welt.</fw><lb/> sprechungen und Vorhersagungen nicht eingetroffen,<note place="foot" n="1)">Zum Beispiel gleich als erstes das Versprechen an Abraham: »das Land<lb/> Canaan will ich dir zu <hi rendition="#g">ewiger</hi> Besitzung geben.«</note> das konnte<lb/> immer leicht erklärt werden; der Wille ist nicht einsichtsvoll, er lässt<lb/> nicht locker was seine Hand hält, und wäre es auch nur ein Phantom;<lb/> je weniger bisher eingetroffen war, um so reicher erschien die Zukunft;<lb/> und so Vieles hatte man schwarz auf weiss (namentlich in der Legende<lb/> des Exodus), dass der Zweifel nicht aufkommen konnte. Was man<lb/> den Buchstabenglauben der Juden nennt, ist doch ein ganz anderes<lb/> Ding als der dogmatische Glaube der Christen: es ist nicht ein<lb/> Glaube an abstrakte, unvorstellbare Mysterien und an allerhand<lb/> mythologische Vorstellungen, sondern etwas durchaus Konkretes, Ge-<lb/> schichtliches. Das Verhältnis der Juden zu ihrem Gott ist von Beginn<lb/> an ein <hi rendition="#g">politisches.</hi><note place="foot" n="2)">Vergl. hierzu Robertson Smith: <hi rendition="#i">The Prophets of Israel,</hi> p. 70 und 133.</note> Jahve verspricht ihnen die Herrschaft der<lb/> Welt — unter gewissen Bedingungen; und ihr Geschichtswerk ist<lb/> ein solches Wunder kunstreicher Struktur, dass die Juden, trotz des<lb/> elendesten, jämmerlichsten Schicksals (als Volk), von dem die Welt-<lb/> annalen zu berichten wissen — kaum dass sie ein einziges Mal, unter<lb/> David und Salomon, ein halbes Jahrhundert relativen Wohlstandes<lb/> und geordneter Verhältnisse genossen — dennoch ihre Vergangenheit<lb/> in den glühendsten Farben erblicken, überall die schützende Hand<lb/> Gottes wahrnehmen, ausgebreitet über sein auserwähltes Volk, über<lb/> die »einzigen Menschen im wahren Sinne«; überall also historische<lb/> Beweise für die Wahrheit ihres Glaubens, woraus sie dann die Zu-<lb/> versicht schöpfen, dass das vor vielen Jahrtausenden dem Abraham<lb/> Verheissene im vollen Umfang noch eintreffen wird. Die göttliche<lb/> Verheissung aber war, wie gesagt, an Bedingungen geknüpft. Man<lb/> konnte nicht im Hause herumgehen, nicht essen und trinken, nicht<lb/> im Felde spazieren, ohne hundert Gebote zu gedenken, von deren<lb/> Erfüllung das Schicksal der Nation abhing. Wie der Psalmist vom<lb/> Juden singt (<hi rendition="#i">Psalm</hi> I, 2):</p><lb/> <cit> <quote>Jahve’s Gebote sind seine Lust,<lb/><hi rendition="#g">Bei Tag und bei Nacht sein Gedenken.</hi><note place="foot" n="3)">In der <hi rendition="#i">Sippurim</hi> betitelten Sammlung jüdischer Volkssagen und Erzählungen<lb/> wird öfters erwähnt, dass der gewöhnliche (ungelehrte) Jude ausser den zehn<lb/> Geboten, noch <hi rendition="#g">sechshundert und dreizehn Gesetze</hi> auswendig zu lernen<lb/> hat. Der <hi rendition="#i">Talmud</hi> aber lehrt <hi rendition="#g">dreizehntausend sechshundert Gesetze,</hi><lb/> deren Befolgung göttliches Gebot ist! (siehe Dr. Emanuel Schreiber: <hi rendition="#i">Der Talmud<lb/> vom Standpunkte des modernen Judentums</hi>).</note></quote> </cit><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [236/0259]
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immer leicht erklärt werden; der Wille ist nicht einsichtsvoll, er lässt
nicht locker was seine Hand hält, und wäre es auch nur ein Phantom;
je weniger bisher eingetroffen war, um so reicher erschien die Zukunft;
und so Vieles hatte man schwarz auf weiss (namentlich in der Legende
des Exodus), dass der Zweifel nicht aufkommen konnte. Was man
den Buchstabenglauben der Juden nennt, ist doch ein ganz anderes
Ding als der dogmatische Glaube der Christen: es ist nicht ein
Glaube an abstrakte, unvorstellbare Mysterien und an allerhand
mythologische Vorstellungen, sondern etwas durchaus Konkretes, Ge-
schichtliches. Das Verhältnis der Juden zu ihrem Gott ist von Beginn
an ein politisches. 2) Jahve verspricht ihnen die Herrschaft der
Welt — unter gewissen Bedingungen; und ihr Geschichtswerk ist
ein solches Wunder kunstreicher Struktur, dass die Juden, trotz des
elendesten, jämmerlichsten Schicksals (als Volk), von dem die Welt-
annalen zu berichten wissen — kaum dass sie ein einziges Mal, unter
David und Salomon, ein halbes Jahrhundert relativen Wohlstandes
und geordneter Verhältnisse genossen — dennoch ihre Vergangenheit
in den glühendsten Farben erblicken, überall die schützende Hand
Gottes wahrnehmen, ausgebreitet über sein auserwähltes Volk, über
die »einzigen Menschen im wahren Sinne«; überall also historische
Beweise für die Wahrheit ihres Glaubens, woraus sie dann die Zu-
versicht schöpfen, dass das vor vielen Jahrtausenden dem Abraham
Verheissene im vollen Umfang noch eintreffen wird. Die göttliche
Verheissung aber war, wie gesagt, an Bedingungen geknüpft. Man
konnte nicht im Hause herumgehen, nicht essen und trinken, nicht
im Felde spazieren, ohne hundert Gebote zu gedenken, von deren
Erfüllung das Schicksal der Nation abhing. Wie der Psalmist vom
Juden singt (Psalm I, 2):
Jahve’s Gebote sind seine Lust,
Bei Tag und bei Nacht sein Gedenken. 3)
1) Zum Beispiel gleich als erstes das Versprechen an Abraham: »das Land
Canaan will ich dir zu ewiger Besitzung geben.«
2) Vergl. hierzu Robertson Smith: The Prophets of Israel, p. 70 und 133.
3) In der Sippurim betitelten Sammlung jüdischer Volkssagen und Erzählungen
wird öfters erwähnt, dass der gewöhnliche (ungelehrte) Jude ausser den zehn
Geboten, noch sechshundert und dreizehn Gesetze auswendig zu lernen
hat. Der Talmud aber lehrt dreizehntausend sechshundert Gesetze,
deren Befolgung göttliches Gebot ist! (siehe Dr. Emanuel Schreiber: Der Talmud
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