Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Das Erbe der alten Welt. innerem Brunnen sie die Kraft schöpften, gross zu sein -- -- -- DieserBlick in die unerforschlichen Tiefen des eigenen Innern, diese Sehn- sucht nach oben: das ist Religion. Religion hat zunächst weder mit Aberglauben noch mit Moral etwas zu thun; sie ist ein Zustand des Gemütes. Und weil der religiöse Mensch in unmittelbarem Kontakt mit einer Welt jenseits der Vernunft steht, so ist er Dichter und Denker: er tritt bewusst schöpferisch auf; ohne Ende arbeitet er an dem edlen Sisyphus-Werke, das Unsichtbare sichtbar, das Undenkbare denkbar zu gestalten;1) nie finden wir bei ihm eine abgeschlossene, chronologische Kosmogonie und Theogonie, dazu erbte er eine zu lebendige Empfindung des Unendlichen; seine Vorstellungen bleiben im Flusse, erstarren niemals; alte werden durch neue ersetzt, Götter, in einem Jahrhundert hochgeehrt, sind im anderen kaum dem Namen nach gekannt. Und doch bleiben die grossen Erkenntnisse fest er- worben und gehen nie mehr verloren, obenan unter allen die grund- legende, welche Jahrtausende vor Christo der Rigveda folgendermassen auszusprechen suchte: "Die Wurzelung des Seienden fanden die Weisen im Herzen", -- eine Überzeugung, welche in unserem Jahrhundert durch Goethe's Mund fast identischen Ausdruck fand: Ist nicht der Kern der Natur Das ist Religion! -- Gerade diese Anlage nun, dieser Gemütszustand, 1) Schön sagt Herder: "Der Mensch allein ist im Widerspruch mit sich und mit der Erde; denn das ausgebildetste Geschöpf unter allen ihren Organisationen ist zugleich das unausgebildetste in seiner eigenen neuen Anlage -- -- -- Er stellt also zwo Welten auf einmal dar, und das macht die anscheinende Duplicität seines Wesens" (Ideen zur Geschichte der Menschheit, Teil I, Buch V, Abschnitt 6). 2) Alles nähere Kap. 5.
Das Erbe der alten Welt. innerem Brunnen sie die Kraft schöpften, gross zu sein — — — DieserBlick in die unerforschlichen Tiefen des eigenen Innern, diese Sehn- sucht nach oben: das ist Religion. Religion hat zunächst weder mit Aberglauben noch mit Moral etwas zu thun; sie ist ein Zustand des Gemütes. Und weil der religiöse Mensch in unmittelbarem Kontakt mit einer Welt jenseits der Vernunft steht, so ist er Dichter und Denker: er tritt bewusst schöpferisch auf; ohne Ende arbeitet er an dem edlen Sisyphus-Werke, das Unsichtbare sichtbar, das Undenkbare denkbar zu gestalten;1) nie finden wir bei ihm eine abgeschlossene, chronologische Kosmogonie und Theogonie, dazu erbte er eine zu lebendige Empfindung des Unendlichen; seine Vorstellungen bleiben im Flusse, erstarren niemals; alte werden durch neue ersetzt, Götter, in einem Jahrhundert hochgeehrt, sind im anderen kaum dem Namen nach gekannt. Und doch bleiben die grossen Erkenntnisse fest er- worben und gehen nie mehr verloren, obenan unter allen die grund- legende, welche Jahrtausende vor Christo der Rigveda folgendermassen auszusprechen suchte: »Die Wurzelung des Seienden fanden die Weisen im Herzen«, — eine Überzeugung, welche in unserem Jahrhundert durch Goethe’s Mund fast identischen Ausdruck fand: Ist nicht der Kern der Natur Das ist Religion! — Gerade diese Anlage nun, dieser Gemütszustand, 1) Schön sagt Herder: »Der Mensch allein ist im Widerspruch mit sich und mit der Erde; denn das ausgebildetste Geschöpf unter allen ihren Organisationen ist zugleich das unausgebildetste in seiner eigenen neuen Anlage — — — Er stellt also zwo Welten auf einmal dar, und das macht die anscheinende Duplicität seines Wesens« (Ideen zur Geschichte der Menschheit, Teil I, Buch V, Abschnitt 6). 2) Alles nähere Kap. 5.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0245" n="222"/><fw place="top" type="header">Das Erbe der alten Welt.</fw><lb/> innerem Brunnen sie die Kraft schöpften, gross zu sein — — — Dieser<lb/> Blick in die unerforschlichen Tiefen des eigenen Innern, diese Sehn-<lb/> sucht nach oben: das ist Religion. Religion hat zunächst weder mit<lb/> Aberglauben noch mit Moral etwas zu thun; sie ist ein Zustand des<lb/> Gemütes. Und weil der religiöse Mensch in unmittelbarem Kontakt<lb/> mit einer Welt jenseits der Vernunft steht, so ist er Dichter und<lb/> Denker: er tritt bewusst schöpferisch auf; ohne Ende arbeitet er an<lb/> dem edlen Sisyphus-Werke, das Unsichtbare sichtbar, das Undenkbare<lb/> denkbar zu gestalten;<note place="foot" n="1)">Schön sagt Herder: »Der Mensch allein ist im Widerspruch mit sich<lb/> und mit der Erde; denn das ausgebildetste Geschöpf unter allen ihren Organisationen<lb/> ist zugleich das unausgebildetste in seiner eigenen <hi rendition="#g">neuen</hi> Anlage — — — Er stellt<lb/> also zwo Welten auf einmal dar, und das macht die anscheinende Duplicität seines<lb/> Wesens« (<hi rendition="#i">Ideen zur Geschichte der Menschheit,</hi> Teil I, Buch V, Abschnitt 6).</note> nie finden wir bei ihm eine abgeschlossene,<lb/> chronologische Kosmogonie und Theogonie, dazu erbte er eine zu<lb/> lebendige Empfindung des Unendlichen; seine Vorstellungen bleiben<lb/> im Flusse, erstarren niemals; alte werden durch neue ersetzt, Götter,<lb/> in einem Jahrhundert hochgeehrt, sind im anderen kaum dem Namen<lb/> nach gekannt. Und doch bleiben die grossen Erkenntnisse fest er-<lb/> worben und gehen nie mehr verloren, obenan unter allen die grund-<lb/> legende, welche Jahrtausende vor Christo der Rigveda folgendermassen<lb/> auszusprechen suchte: »Die Wurzelung des Seienden fanden die Weisen<lb/><hi rendition="#g">im Herzen</hi>«, — eine Überzeugung, welche in unserem Jahrhundert<lb/> durch Goethe’s Mund fast identischen Ausdruck fand:</p><lb/> <cit> <quote>Ist nicht der Kern der Natur<lb/> Menschen <hi rendition="#g">im Herzen?</hi></quote> </cit><lb/> <p>Das ist Religion! — Gerade diese Anlage nun, dieser Gemütszustand,<lb/> dieser Instinkt, den Kern der Natur im <hi rendition="#g">Herzen</hi> zu suchen, mangelt<lb/> den Juden in auffallendem Masse. Sie sind geborene Rationalisten.<lb/> Die Vernunft ist bei ihnen stark, der Wille enorm entwickelt, dagegen<lb/> ist ihre Kraft der Phantasie und der Gestaltung eine eigentümlich be-<lb/> schränkte. Ihre spärlichen mythisch-religiösen Vorstellungen, ja, sogar<lb/> ihre Gebote und Gebräuche und ihre Kultusvorschriften entlehnten<lb/> sie ausnahmslos fremden Völkern, reduzierten alles auf ein Minimum<note place="foot" n="2)">Alles nähere Kap. 5.</note><lb/> und bewahrten es starr unverändert; das schöpferische Element, das<lb/> eigentlich innere <hi rendition="#g">Leben</hi> fehlt hier fast gänzlich; im besten Falle ver-<lb/> hält es sich zu dem so unendlich reichen religiösen Leben der Arier<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [222/0245]
Das Erbe der alten Welt.
innerem Brunnen sie die Kraft schöpften, gross zu sein — — — Dieser
Blick in die unerforschlichen Tiefen des eigenen Innern, diese Sehn-
sucht nach oben: das ist Religion. Religion hat zunächst weder mit
Aberglauben noch mit Moral etwas zu thun; sie ist ein Zustand des
Gemütes. Und weil der religiöse Mensch in unmittelbarem Kontakt
mit einer Welt jenseits der Vernunft steht, so ist er Dichter und
Denker: er tritt bewusst schöpferisch auf; ohne Ende arbeitet er an
dem edlen Sisyphus-Werke, das Unsichtbare sichtbar, das Undenkbare
denkbar zu gestalten; 1) nie finden wir bei ihm eine abgeschlossene,
chronologische Kosmogonie und Theogonie, dazu erbte er eine zu
lebendige Empfindung des Unendlichen; seine Vorstellungen bleiben
im Flusse, erstarren niemals; alte werden durch neue ersetzt, Götter,
in einem Jahrhundert hochgeehrt, sind im anderen kaum dem Namen
nach gekannt. Und doch bleiben die grossen Erkenntnisse fest er-
worben und gehen nie mehr verloren, obenan unter allen die grund-
legende, welche Jahrtausende vor Christo der Rigveda folgendermassen
auszusprechen suchte: »Die Wurzelung des Seienden fanden die Weisen
im Herzen«, — eine Überzeugung, welche in unserem Jahrhundert
durch Goethe’s Mund fast identischen Ausdruck fand:
Ist nicht der Kern der Natur
Menschen im Herzen?
Das ist Religion! — Gerade diese Anlage nun, dieser Gemütszustand,
dieser Instinkt, den Kern der Natur im Herzen zu suchen, mangelt
den Juden in auffallendem Masse. Sie sind geborene Rationalisten.
Die Vernunft ist bei ihnen stark, der Wille enorm entwickelt, dagegen
ist ihre Kraft der Phantasie und der Gestaltung eine eigentümlich be-
schränkte. Ihre spärlichen mythisch-religiösen Vorstellungen, ja, sogar
ihre Gebote und Gebräuche und ihre Kultusvorschriften entlehnten
sie ausnahmslos fremden Völkern, reduzierten alles auf ein Minimum 2)
und bewahrten es starr unverändert; das schöpferische Element, das
eigentlich innere Leben fehlt hier fast gänzlich; im besten Falle ver-
hält es sich zu dem so unendlich reichen religiösen Leben der Arier
1) Schön sagt Herder: »Der Mensch allein ist im Widerspruch mit sich
und mit der Erde; denn das ausgebildetste Geschöpf unter allen ihren Organisationen
ist zugleich das unausgebildetste in seiner eigenen neuen Anlage — — — Er stellt
also zwo Welten auf einmal dar, und das macht die anscheinende Duplicität seines
Wesens« (Ideen zur Geschichte der Menschheit, Teil I, Buch V, Abschnitt 6).
2) Alles nähere Kap. 5.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |