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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.
liche gerichtet ist, ob sie die Entfaltung der unermesslichen Lebens-
macht in des Menschen Innern fördert oder hemmt, ob sie auf Ver-
lebendigung jenes "Reich Gottes inwendig in uns" hinzielt, oder im
Gegenteil diesen einzigen Schatz "derjenigen, die erwählet sind", auf
ewig zuschüttet -- da ist bei ihm von Duldsamkeit keine Rede, und
kann auch keine sein. Gerade in dieser Beziehung ist seit dem vorigen
Jahrhundert viel geschehen, um das hohe Antlitz des Menschensohnes
aller kraftvollen Züge zu berauben. Man hat, ich weiss nicht welches
Trugbild einer unbeschränkten Duldsamkeit, einer allgemein wohl-
wollenden Passivität uns als Christentum hingemalt, so eine Milch-
und Wasser-Religion; in den allerletzten Jahren erlebten wir sogar
"interkonfessionelle Religionskongresse", wo alle Pfaffen der Welt sich
brüderlich die Hand reichten und viele Christen begrüssten das als
besonders "christlich". Kirchlich mag es sein, es mag auch recht und
gut sein, Christus aber hätte zu einem derartigen Kongress keinen
Apostel entsandt. Entweder ist das Wort vom Kreuz eine Thorheit
oder es ist eine Gottes-Kraft; zwischen beiden hat Christus selber die
gähnende Kluft der "Zwietracht" aufgerissen, und um jede Über-
brückung zu vereiteln, das flammende "Schwert" gezogen. Wer die
Erscheinung Christi begreift, kann sich darüber nicht wundern. Die
Duldsamkeit Christi ist die eines Geistes, der himmelhoch über allen
Formen schwebt, welche die Welt trennen; eine Verschmelzung dieser
Formen könnte für ihn nicht die geringste Bedeutung haben -- sie
wäre einfach die Entstehung einer neuen Form; ihm aber kommt es
einzig auf "den Geist und die Wahrheit" an. Und wenn Christus
lehrt: "so dir Jemand einen Streich giebt auf deinen rechten Backen,
dem biete den andern auch dar; und so Jemand deinen Rock nimmt,
dem lass' auch deinen Mantel" -- eine Lehre, der sein Beispiel am
Kreuze ewige Bedeutung gab --, wer sieht nicht ein, dass dies eng
mit dem Folgenden zusammenhängt: "Liebet eure Feinde, thut wohl,
denen, die euch hassen", und dass hier jene innerliche "Umkehr" zum
Ausdruck kommt, nicht aber passiv, sondern in der denkbar höchsten
Form des lebendigen Handelns? Biete ich dem frechen Schläger
meinen linken Backen, so geschieht es nicht seinetwegen; liebe ich
meinen Feind und erweise ich ihm Wohlthaten, so geschieht es nicht
seinetwegen; nach der Umkehr des Willens ist es mir nicht anders
möglich, darum thue ich es. Das alte Gesetz: Aug' um Auge, Hass
um Hass ist eine ebenso natürliche Reflexbewegung, wie die, welche
die Beine selbst eines schon toten Frosches beim Anreizen der Nerven

Die Erscheinung Christi.
liche gerichtet ist, ob sie die Entfaltung der unermesslichen Lebens-
macht in des Menschen Innern fördert oder hemmt, ob sie auf Ver-
lebendigung jenes »Reich Gottes inwendig in uns« hinzielt, oder im
Gegenteil diesen einzigen Schatz »derjenigen, die erwählet sind«, auf
ewig zuschüttet — da ist bei ihm von Duldsamkeit keine Rede, und
kann auch keine sein. Gerade in dieser Beziehung ist seit dem vorigen
Jahrhundert viel geschehen, um das hohe Antlitz des Menschensohnes
aller kraftvollen Züge zu berauben. Man hat, ich weiss nicht welches
Trugbild einer unbeschränkten Duldsamkeit, einer allgemein wohl-
wollenden Passivität uns als Christentum hingemalt, so eine Milch-
und Wasser-Religion; in den allerletzten Jahren erlebten wir sogar
»interkonfessionelle Religionskongresse«, wo alle Pfaffen der Welt sich
brüderlich die Hand reichten und viele Christen begrüssten das als
besonders »christlich«. Kirchlich mag es sein, es mag auch recht und
gut sein, Christus aber hätte zu einem derartigen Kongress keinen
Apostel entsandt. Entweder ist das Wort vom Kreuz eine Thorheit
oder es ist eine Gottes-Kraft; zwischen beiden hat Christus selber die
gähnende Kluft der »Zwietracht« aufgerissen, und um jede Über-
brückung zu vereiteln, das flammende »Schwert« gezogen. Wer die
Erscheinung Christi begreift, kann sich darüber nicht wundern. Die
Duldsamkeit Christi ist die eines Geistes, der himmelhoch über allen
Formen schwebt, welche die Welt trennen; eine Verschmelzung dieser
Formen könnte für ihn nicht die geringste Bedeutung haben — sie
wäre einfach die Entstehung einer neuen Form; ihm aber kommt es
einzig auf »den Geist und die Wahrheit« an. Und wenn Christus
lehrt: »so dir Jemand einen Streich giebt auf deinen rechten Backen,
dem biete den andern auch dar; und so Jemand deinen Rock nimmt,
dem lass’ auch deinen Mantel« — eine Lehre, der sein Beispiel am
Kreuze ewige Bedeutung gab —, wer sieht nicht ein, dass dies eng
mit dem Folgenden zusammenhängt: »Liebet eure Feinde, thut wohl,
denen, die euch hassen«, und dass hier jene innerliche »Umkehr« zum
Ausdruck kommt, nicht aber passiv, sondern in der denkbar höchsten
Form des lebendigen Handelns? Biete ich dem frechen Schläger
meinen linken Backen, so geschieht es nicht seinetwegen; liebe ich
meinen Feind und erweise ich ihm Wohlthaten, so geschieht es nicht
seinetwegen; nach der Umkehr des Willens ist es mir nicht anders
möglich, darum thue ich es. Das alte Gesetz: Aug’ um Auge, Hass
um Hass ist eine ebenso natürliche Reflexbewegung, wie die, welche
die Beine selbst eines schon toten Frosches beim Anreizen der Nerven

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[205/0228] Die Erscheinung Christi. liche gerichtet ist, ob sie die Entfaltung der unermesslichen Lebens- macht in des Menschen Innern fördert oder hemmt, ob sie auf Ver- lebendigung jenes »Reich Gottes inwendig in uns« hinzielt, oder im Gegenteil diesen einzigen Schatz »derjenigen, die erwählet sind«, auf ewig zuschüttet — da ist bei ihm von Duldsamkeit keine Rede, und kann auch keine sein. Gerade in dieser Beziehung ist seit dem vorigen Jahrhundert viel geschehen, um das hohe Antlitz des Menschensohnes aller kraftvollen Züge zu berauben. Man hat, ich weiss nicht welches Trugbild einer unbeschränkten Duldsamkeit, einer allgemein wohl- wollenden Passivität uns als Christentum hingemalt, so eine Milch- und Wasser-Religion; in den allerletzten Jahren erlebten wir sogar »interkonfessionelle Religionskongresse«, wo alle Pfaffen der Welt sich brüderlich die Hand reichten und viele Christen begrüssten das als besonders »christlich«. Kirchlich mag es sein, es mag auch recht und gut sein, Christus aber hätte zu einem derartigen Kongress keinen Apostel entsandt. Entweder ist das Wort vom Kreuz eine Thorheit oder es ist eine Gottes-Kraft; zwischen beiden hat Christus selber die gähnende Kluft der »Zwietracht« aufgerissen, und um jede Über- brückung zu vereiteln, das flammende »Schwert« gezogen. Wer die Erscheinung Christi begreift, kann sich darüber nicht wundern. Die Duldsamkeit Christi ist die eines Geistes, der himmelhoch über allen Formen schwebt, welche die Welt trennen; eine Verschmelzung dieser Formen könnte für ihn nicht die geringste Bedeutung haben — sie wäre einfach die Entstehung einer neuen Form; ihm aber kommt es einzig auf »den Geist und die Wahrheit« an. Und wenn Christus lehrt: »so dir Jemand einen Streich giebt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar; und so Jemand deinen Rock nimmt, dem lass’ auch deinen Mantel« — eine Lehre, der sein Beispiel am Kreuze ewige Bedeutung gab —, wer sieht nicht ein, dass dies eng mit dem Folgenden zusammenhängt: »Liebet eure Feinde, thut wohl, denen, die euch hassen«, und dass hier jene innerliche »Umkehr« zum Ausdruck kommt, nicht aber passiv, sondern in der denkbar höchsten Form des lebendigen Handelns? Biete ich dem frechen Schläger meinen linken Backen, so geschieht es nicht seinetwegen; liebe ich meinen Feind und erweise ich ihm Wohlthaten, so geschieht es nicht seinetwegen; nach der Umkehr des Willens ist es mir nicht anders möglich, darum thue ich es. Das alte Gesetz: Aug’ um Auge, Hass um Hass ist eine ebenso natürliche Reflexbewegung, wie die, welche die Beine selbst eines schon toten Frosches beim Anreizen der Nerven

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/228>, abgerufen am 25.11.2024.