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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.
spendet nicht der gewöhnliche Tod, sondern nur derjenige Tod, auf
den keine Neugeburt folgt; und dieser erlösende Tod kann einzig
dadurch gewonnen werden, dass der Mensch schon im Leben, also
aus freien Stücken, stirbt; d. h., dass er alles, was ihn an das Leben
fesselt, alle Liebe, alles Hoffen, alles Wünschen, alles Haben ab-
schneidet und vernichtet, kurz, wie wir heute mit Schopenhauer
sagen würden, dass er den Willen zum Leben verneint. Lebt der
Mensch auf diese Weise, macht er sich selbst zur wandelnden Leiche
ehe er stirbt, dann erntet der Schnitter Tod keinen Samen zur Neu-
geburt. Lebend sterben: das ist die Essenz des Buddhismus. Man
kann Buddha's Leben als den gelebten Selbstmord bezeichnen.
Es ist der Selbstmord in seiner denkbar höchsten Potenz: denn
Buddha lebt einzig und allein, um zu sterben, um endgültig und
ohne Widerruf tot zu sein, um einzugehen in das Nirwana, das Nichts.

Welchen grösseren Gegensatz kann es zu dieser ErscheinungChristus.
geben, als diejenige Christi, dessen Tod den Eingang ins ewige Leben
bedeutet? In der ganzen Welt erblickt Christus göttliche Vorsehung;
kein Sperling fällt zur Erde, kein Haar auf eines Menschen Haupt
kann gekrümmt werden, ohne dass der himmlische Vater es erlaubt.
Und weit entfernt, dass dieses irdische Dasein, gelebt durch den
Willen und unter dem Auge Gottes, ihm verhasst sei, preist es Christus
als den Eingang in die Ewigkeit, als die enge Pforte, durch die wir
ins Himmelreich eintreten. Und dieses Himmelreich, was ist es? ein
Nirwana? ein erträumtes Paradies? eine zu erkaufende zukünftige Be-
lohnung für hienieden vollbrachte Werke? Die Antwort giebt Christus
in einem Wort, welches uns unzweifelhaft authentisch aufbewahrt
worden ist, denn es war noch niemals gesprochen worden, und es
wurde offenbar von keinem seiner Jünger verstanden, vielweniger er-
funden, ja, es eilte der langsamen Entfaltung der menschlichen Er-
kenntnis mit so mächtigem Flügelschlag voraus, dass es bis heute nur
Wenigen seinen Sinn enthüllt -- -- -- ich sagte es schon, unser
Christentum geht noch auf Kinderfüssen; Christus antwortet: "Das
Reich Gottes kommt nicht mit äusserlichen Geberden.
Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier oder da ist es. Denn sehet,
das Reich Gottes ist inwendig in euch." Dies ist, was
Christus selber "das Geheimnis" nennt; es lässt sich nicht in Worte
fassen, es lässt sich nicht begrifflich darthun; und immer wieder sucht
der Heiland diese seine grosse Heilsbotschaft durch Gleichnisse seinen
Zuhörern nahezulegen: das Himmelreich ist wie ein Senfkorn auf

Die Erscheinung Christi.
spendet nicht der gewöhnliche Tod, sondern nur derjenige Tod, auf
den keine Neugeburt folgt; und dieser erlösende Tod kann einzig
dadurch gewonnen werden, dass der Mensch schon im Leben, also
aus freien Stücken, stirbt; d. h., dass er alles, was ihn an das Leben
fesselt, alle Liebe, alles Hoffen, alles Wünschen, alles Haben ab-
schneidet und vernichtet, kurz, wie wir heute mit Schopenhauer
sagen würden, dass er den Willen zum Leben verneint. Lebt der
Mensch auf diese Weise, macht er sich selbst zur wandelnden Leiche
ehe er stirbt, dann erntet der Schnitter Tod keinen Samen zur Neu-
geburt. Lebend sterben: das ist die Essenz des Buddhismus. Man
kann Buddha’s Leben als den gelebten Selbstmord bezeichnen.
Es ist der Selbstmord in seiner denkbar höchsten Potenz: denn
Buddha lebt einzig und allein, um zu sterben, um endgültig und
ohne Widerruf tot zu sein, um einzugehen in das Nirwana, das Nichts.

Welchen grösseren Gegensatz kann es zu dieser ErscheinungChristus.
geben, als diejenige Christi, dessen Tod den Eingang ins ewige Leben
bedeutet? In der ganzen Welt erblickt Christus göttliche Vorsehung;
kein Sperling fällt zur Erde, kein Haar auf eines Menschen Haupt
kann gekrümmt werden, ohne dass der himmlische Vater es erlaubt.
Und weit entfernt, dass dieses irdische Dasein, gelebt durch den
Willen und unter dem Auge Gottes, ihm verhasst sei, preist es Christus
als den Eingang in die Ewigkeit, als die enge Pforte, durch die wir
ins Himmelreich eintreten. Und dieses Himmelreich, was ist es? ein
Nirwana? ein erträumtes Paradies? eine zu erkaufende zukünftige Be-
lohnung für hienieden vollbrachte Werke? Die Antwort giebt Christus
in einem Wort, welches uns unzweifelhaft authentisch aufbewahrt
worden ist, denn es war noch niemals gesprochen worden, und es
wurde offenbar von keinem seiner Jünger verstanden, vielweniger er-
funden, ja, es eilte der langsamen Entfaltung der menschlichen Er-
kenntnis mit so mächtigem Flügelschlag voraus, dass es bis heute nur
Wenigen seinen Sinn enthüllt — — — ich sagte es schon, unser
Christentum geht noch auf Kinderfüssen; Christus antwortet: »Das
Reich Gottes kommt nicht mit äusserlichen Geberden.
Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier oder da ist es. Denn sehet,
das Reich Gottes ist inwendig in euch.« Dies ist, was
Christus selber »das Geheimnis« nennt; es lässt sich nicht in Worte
fassen, es lässt sich nicht begrifflich darthun; und immer wieder sucht
der Heiland diese seine grosse Heilsbotschaft durch Gleichnisse seinen
Zuhörern nahezulegen: das Himmelreich ist wie ein Senfkorn auf

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[199/0222] Die Erscheinung Christi. spendet nicht der gewöhnliche Tod, sondern nur derjenige Tod, auf den keine Neugeburt folgt; und dieser erlösende Tod kann einzig dadurch gewonnen werden, dass der Mensch schon im Leben, also aus freien Stücken, stirbt; d. h., dass er alles, was ihn an das Leben fesselt, alle Liebe, alles Hoffen, alles Wünschen, alles Haben ab- schneidet und vernichtet, kurz, wie wir heute mit Schopenhauer sagen würden, dass er den Willen zum Leben verneint. Lebt der Mensch auf diese Weise, macht er sich selbst zur wandelnden Leiche ehe er stirbt, dann erntet der Schnitter Tod keinen Samen zur Neu- geburt. Lebend sterben: das ist die Essenz des Buddhismus. Man kann Buddha’s Leben als den gelebten Selbstmord bezeichnen. Es ist der Selbstmord in seiner denkbar höchsten Potenz: denn Buddha lebt einzig und allein, um zu sterben, um endgültig und ohne Widerruf tot zu sein, um einzugehen in das Nirwana, das Nichts. Welchen grösseren Gegensatz kann es zu dieser Erscheinung geben, als diejenige Christi, dessen Tod den Eingang ins ewige Leben bedeutet? In der ganzen Welt erblickt Christus göttliche Vorsehung; kein Sperling fällt zur Erde, kein Haar auf eines Menschen Haupt kann gekrümmt werden, ohne dass der himmlische Vater es erlaubt. Und weit entfernt, dass dieses irdische Dasein, gelebt durch den Willen und unter dem Auge Gottes, ihm verhasst sei, preist es Christus als den Eingang in die Ewigkeit, als die enge Pforte, durch die wir ins Himmelreich eintreten. Und dieses Himmelreich, was ist es? ein Nirwana? ein erträumtes Paradies? eine zu erkaufende zukünftige Be- lohnung für hienieden vollbrachte Werke? Die Antwort giebt Christus in einem Wort, welches uns unzweifelhaft authentisch aufbewahrt worden ist, denn es war noch niemals gesprochen worden, und es wurde offenbar von keinem seiner Jünger verstanden, vielweniger er- funden, ja, es eilte der langsamen Entfaltung der menschlichen Er- kenntnis mit so mächtigem Flügelschlag voraus, dass es bis heute nur Wenigen seinen Sinn enthüllt — — — ich sagte es schon, unser Christentum geht noch auf Kinderfüssen; Christus antwortet: »Das Reich Gottes kommt nicht mit äusserlichen Geberden. Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier oder da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.« Dies ist, was Christus selber »das Geheimnis« nennt; es lässt sich nicht in Worte fassen, es lässt sich nicht begrifflich darthun; und immer wieder sucht der Heiland diese seine grosse Heilsbotschaft durch Gleichnisse seinen Zuhörern nahezulegen: das Himmelreich ist wie ein Senfkorn auf Christus.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/222>, abgerufen am 28.11.2024.