Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Römisches Recht. Verhältnissen halbautomatisch anzupassen; geniale Erfindungen, wiez. B. die der juristischen "Fiktion", wodurch ein Mittel gefunden war (wenn ich mich laienhaft ausdrücken darf), um fehlende Rechtsnormen durch vorhandene zu ersetzen; staatliche Einrichtungen, wie diejenige der Prätoren, durch welche dem in einem lebendigen Organismus so nötigen Gewohnheitsrecht ein Platz gesichert wurde, bis aus der Praxis das beste Recht sich ergeben hatte, durch welche auch das jus gentium nach und nach in naher Fühlung mit dem engeren römischen jus civile entstand -- -- das alles bewirkte ein frisches, pulsierendes Rechts- leben, wie Keiner es sich vorstellen kann, der Jurisprudenz nicht studiert hat, denn um uns herum giebt es nichts derartiges, gar nichts. 1) Nun bedenke man aber noch, um den Abstand zwischen uns und den Römern zu ermessen, dass eigentliche gelernte und gelehrte Juristen erst sehr spät, gegen Ende der Republik aufkamen, und dass dieses herrliche, in den meisten Teilen unendlich fein ciselierte Erzeugnis rechtlicher Technik das Werk eines Volkes von Bauern und rauhen Kriegern ist! Man versuche es doch, einem heutigen Durchschnitts- philister den juristischen Unterschied zwischen Eigentum und Besitz klar zu machen, ihm beizubringen, der Dieb sei der juristische Be- sitzer der gestohlenen Sache und geniesse als solcher rechtlichen Be- sitzesschutz, der Pfandgläubiger ebenfalls und auch der Erbpächter; es wird nicht gelingen, ich weiss es aus Erfahrung. Und ich wähle absichtlich ein einfaches Beispiel. Der römische Bauer dagegen, der weder schreiben noch lesen konnte, wusste das alles ganz genau schon ein halbes Jahrtausend vor Christo. 2) Er wusste allerdings nicht viel mehr, sein Recht aber kannte und handhabte er mit ebenso genauer Sachkenntnis wie seinen Pflug und seine Ochsen; und indem er es kannte und darüber nachdachte, 3) indem er für sich und das Seine und die Seinigen immer festeren, bestimmteren Rechtsschutz erstrebte, er- richtete er thatsächlich jenes Rechtsgebäude, in welchem spätere Völker in schwierigsten Zeiten Schutz fanden, und welches wir jetzt mit mehr oder weniger Glück, mit mehr oder weniger Veränderungen nach- bauen, ausbauen, zu vervollkommnen trachten. Es von selbst erfinden 1) Namentlich von den Jahresedikten der Prätoren sagt Leist, sie seien "das Hauptmoment in der feineren Ausbildung des römischen Rechtes geworden" (a. a. O., S. 622). 2) Siehe die scharfe Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz, Tafel VII, Satz 11. 3) Noch zu Cicero's Zeiten lernte jeder Knabe die zwölf Tafeln auswendig.
Römisches Recht. Verhältnissen halbautomatisch anzupassen; geniale Erfindungen, wiez. B. die der juristischen »Fiktion«, wodurch ein Mittel gefunden war (wenn ich mich laienhaft ausdrücken darf), um fehlende Rechtsnormen durch vorhandene zu ersetzen; staatliche Einrichtungen, wie diejenige der Prätoren, durch welche dem in einem lebendigen Organismus so nötigen Gewohnheitsrecht ein Platz gesichert wurde, bis aus der Praxis das beste Recht sich ergeben hatte, durch welche auch das jus gentium nach und nach in naher Fühlung mit dem engeren römischen jus civile entstand — — das alles bewirkte ein frisches, pulsierendes Rechts- leben, wie Keiner es sich vorstellen kann, der Jurisprudenz nicht studiert hat, denn um uns herum giebt es nichts derartiges, gar nichts. 1) Nun bedenke man aber noch, um den Abstand zwischen uns und den Römern zu ermessen, dass eigentliche gelernte und gelehrte Juristen erst sehr spät, gegen Ende der Republik aufkamen, und dass dieses herrliche, in den meisten Teilen unendlich fein ciselierte Erzeugnis rechtlicher Technik das Werk eines Volkes von Bauern und rauhen Kriegern ist! Man versuche es doch, einem heutigen Durchschnitts- philister den juristischen Unterschied zwischen Eigentum und Besitz klar zu machen, ihm beizubringen, der Dieb sei der juristische Be- sitzer der gestohlenen Sache und geniesse als solcher rechtlichen Be- sitzesschutz, der Pfandgläubiger ebenfalls und auch der Erbpächter; es wird nicht gelingen, ich weiss es aus Erfahrung. Und ich wähle absichtlich ein einfaches Beispiel. Der römische Bauer dagegen, der weder schreiben noch lesen konnte, wusste das alles ganz genau schon ein halbes Jahrtausend vor Christo. 2) Er wusste allerdings nicht viel mehr, sein Recht aber kannte und handhabte er mit ebenso genauer Sachkenntnis wie seinen Pflug und seine Ochsen; und indem er es kannte und darüber nachdachte, 3) indem er für sich und das Seine und die Seinigen immer festeren, bestimmteren Rechtsschutz erstrebte, er- richtete er thatsächlich jenes Rechtsgebäude, in welchem spätere Völker in schwierigsten Zeiten Schutz fanden, und welches wir jetzt mit mehr oder weniger Glück, mit mehr oder weniger Veränderungen nach- bauen, ausbauen, zu vervollkommnen trachten. Es von selbst erfinden 1) Namentlich von den Jahresedikten der Prätoren sagt Leist, sie seien »das Hauptmoment in der feineren Ausbildung des römischen Rechtes geworden« (a. a. O., S. 622). 2) Siehe die scharfe Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz, Tafel VII, Satz 11. 3) Noch zu Cicero’s Zeiten lernte jeder Knabe die zwölf Tafeln auswendig.
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Römisches Recht.
Verhältnissen halbautomatisch anzupassen; geniale Erfindungen, wie
z. B. die der juristischen »Fiktion«, wodurch ein Mittel gefunden war
(wenn ich mich laienhaft ausdrücken darf), um fehlende Rechtsnormen
durch vorhandene zu ersetzen; staatliche Einrichtungen, wie diejenige
der Prätoren, durch welche dem in einem lebendigen Organismus so
nötigen Gewohnheitsrecht ein Platz gesichert wurde, bis aus der Praxis
das beste Recht sich ergeben hatte, durch welche auch das jus gentium
nach und nach in naher Fühlung mit dem engeren römischen jus
civile entstand — — das alles bewirkte ein frisches, pulsierendes Rechts-
leben, wie Keiner es sich vorstellen kann, der Jurisprudenz nicht
studiert hat, denn um uns herum giebt es nichts derartiges, gar nichts. 1)
Nun bedenke man aber noch, um den Abstand zwischen uns und
den Römern zu ermessen, dass eigentliche gelernte und gelehrte Juristen
erst sehr spät, gegen Ende der Republik aufkamen, und dass dieses
herrliche, in den meisten Teilen unendlich fein ciselierte Erzeugnis
rechtlicher Technik das Werk eines Volkes von Bauern und rauhen
Kriegern ist! Man versuche es doch, einem heutigen Durchschnitts-
philister den juristischen Unterschied zwischen Eigentum und Besitz
klar zu machen, ihm beizubringen, der Dieb sei der juristische Be-
sitzer der gestohlenen Sache und geniesse als solcher rechtlichen Be-
sitzesschutz, der Pfandgläubiger ebenfalls und auch der Erbpächter;
es wird nicht gelingen, ich weiss es aus Erfahrung. Und ich wähle
absichtlich ein einfaches Beispiel. Der römische Bauer dagegen, der
weder schreiben noch lesen konnte, wusste das alles ganz genau schon
ein halbes Jahrtausend vor Christo. 2) Er wusste allerdings nicht viel
mehr, sein Recht aber kannte und handhabte er mit ebenso genauer
Sachkenntnis wie seinen Pflug und seine Ochsen; und indem er es
kannte und darüber nachdachte, 3) indem er für sich und das Seine und
die Seinigen immer festeren, bestimmteren Rechtsschutz erstrebte, er-
richtete er thatsächlich jenes Rechtsgebäude, in welchem spätere Völker
in schwierigsten Zeiten Schutz fanden, und welches wir jetzt mit mehr
oder weniger Glück, mit mehr oder weniger Veränderungen nach-
bauen, ausbauen, zu vervollkommnen trachten. Es von selbst erfinden
1) Namentlich von den Jahresedikten der Prätoren sagt Leist, sie seien
»das Hauptmoment in der feineren Ausbildung des römischen Rechtes geworden«
(a. a. O., S. 622).
2) Siehe die scharfe Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz, Tafel VII,
Satz 11.
3) Noch zu Cicero’s Zeiten lernte jeder Knabe die zwölf Tafeln auswendig.
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