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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
schärfer gedacht haben, als jemals andere Menschen, wozu die Eigen-
tümlichkeit kam, dass bei ihnen das Fühlen und das Denken ergänzend
zusammenwirkten.

Ich nannte schon ihre Liebe zur Heimat. Das war ein Grund-
zug des altrömischen Wesens. Es war nicht die rein intellektuelle
Liebe der Hellenen, sangeslustig und überschäumend, doch leicht den
verräterischen Eingebungen des Eigennutzes erliegend, auch nicht die
wortreiche der Juden: man weiss, wie die Juden die "babylonische
Gefangenschaft" so rührend besingen, von dem grossherzigen Darius
aber mit Schätzen in die Heimat zurückgeschickt, lieber Geldopfer
bringen und bloss die Ärmsten zur Rückkehr zwingen, als dass sie
das fremde Land, wo es ihnen so gut geht, verlassen; nein, bei den
Römern war es eine treue, wortkarge, durchaus unsentimentale, dabei
aber zu jedem Opfer bereite Liebe; kein Mann und kein Weib unter
ihnen zögerte je, das Leben für das Vaterland zu opfern. Wie erklärt
man nun eine so übermässige Liebe? Rom war (in alten Zeiten)
keine reiche Stadt; ohne die Grenzen Italiens zu überschreiten, konnte
man weit fruchtreichere Gegenden sehen. Was Rom aber gab und
sicherte, das war ein in sittlicher Beziehung menschenwürdiges Dasein.
Die Römer haben nicht die Ehe erfunden, sie haben nicht das Recht
erfunden, sie haben nicht den geordneten, Freiheit gewährenden Staat
erfunden: das alles erwächst aus der menschlichen Natur und findet
sich überall in irgend einer Form |und in irgend einem Grade;
was aber die arischen Stämme unter diesen Begriffen als Grundlagen
aller Sittlichkeit und Kultur sich vorstellten, hatte bis auf die Römer
nirgends festen Fuss gefasst.1) Waren die Hellenen zu nahe an Asien

1) Für die arischen Stämme speziell vergl. Leist's vortreffliche: Gräco-
italische Rechtsgeschichte
(1884) und sein noch nicht beendetes Altarisches Jus
civile,
auch Jherings: Vorgeschichte der Indoeuropäer. Die ethnischen Forschungen
der letzten Jahre haben aber mehr und mehr gezeigt, dass Ehe, Recht und Staat
in irgend einer Form überall, auch bei den geistig zumindest entwickelten Wilden
bestehen. Und das muss scharf betont werden, denn die Entwickelungsmanie und
der pseudowissenschaftliche Dogmatismus unseres Jahrhunderts haben in die meisten
populären Bücher durchaus erfundene Darstellungen hineingebracht, die, trotz der
sicheren Resultate genauer Forschungen, gar nicht mehr hinauszubringen sind;
diese Darstellungen dringen ausserdem von dort aus in wertvolle ernste Werke
ein. In Lamprecht's vielgenannter Deutscher Geschichte, Band I, z. B. finden wir
eine angebliche Schilderung der gesellschaftlichen Zustände der alten Germanen,
entworfen "unter den Auspizien der vergleichenden Völkerkunde"; hier wird von
einer Zeit berichtet, in der bei den Germanen "eine durch keinerlei Unterschiede

Das Erbe der alten Welt.
schärfer gedacht haben, als jemals andere Menschen, wozu die Eigen-
tümlichkeit kam, dass bei ihnen das Fühlen und das Denken ergänzend
zusammenwirkten.

Ich nannte schon ihre Liebe zur Heimat. Das war ein Grund-
zug des altrömischen Wesens. Es war nicht die rein intellektuelle
Liebe der Hellenen, sangeslustig und überschäumend, doch leicht den
verräterischen Eingebungen des Eigennutzes erliegend, auch nicht die
wortreiche der Juden: man weiss, wie die Juden die »babylonische
Gefangenschaft« so rührend besingen, von dem grossherzigen Darius
aber mit Schätzen in die Heimat zurückgeschickt, lieber Geldopfer
bringen und bloss die Ärmsten zur Rückkehr zwingen, als dass sie
das fremde Land, wo es ihnen so gut geht, verlassen; nein, bei den
Römern war es eine treue, wortkarge, durchaus unsentimentale, dabei
aber zu jedem Opfer bereite Liebe; kein Mann und kein Weib unter
ihnen zögerte je, das Leben für das Vaterland zu opfern. Wie erklärt
man nun eine so übermässige Liebe? Rom war (in alten Zeiten)
keine reiche Stadt; ohne die Grenzen Italiens zu überschreiten, konnte
man weit fruchtreichere Gegenden sehen. Was Rom aber gab und
sicherte, das war ein in sittlicher Beziehung menschenwürdiges Dasein.
Die Römer haben nicht die Ehe erfunden, sie haben nicht das Recht
erfunden, sie haben nicht den geordneten, Freiheit gewährenden Staat
erfunden: das alles erwächst aus der menschlichen Natur und findet
sich überall in irgend einer Form |und in irgend einem Grade;
was aber die arischen Stämme unter diesen Begriffen als Grundlagen
aller Sittlichkeit und Kultur sich vorstellten, hatte bis auf die Römer
nirgends festen Fuss gefasst.1) Waren die Hellenen zu nahe an Asien

1) Für die arischen Stämme speziell vergl. Leist’s vortreffliche: Gräco-
italische Rechtsgeschichte
(1884) und sein noch nicht beendetes Altarisches Jus
civile,
auch Jherings: Vorgeschichte der Indoeuropäer. Die ethnischen Forschungen
der letzten Jahre haben aber mehr und mehr gezeigt, dass Ehe, Recht und Staat
in irgend einer Form überall, auch bei den geistig zumindest entwickelten Wilden
bestehen. Und das muss scharf betont werden, denn die Entwickelungsmanie und
der pseudowissenschaftliche Dogmatismus unseres Jahrhunderts haben in die meisten
populären Bücher durchaus erfundene Darstellungen hineingebracht, die, trotz der
sicheren Resultate genauer Forschungen, gar nicht mehr hinauszubringen sind;
diese Darstellungen dringen ausserdem von dort aus in wertvolle ernste Werke
ein. In Lamprecht’s vielgenannter Deutscher Geschichte, Band I, z. B. finden wir
eine angebliche Schilderung der gesellschaftlichen Zustände der alten Germanen,
entworfen »unter den Auspizien der vergleichenden Völkerkunde«; hier wird von
einer Zeit berichtet, in der bei den Germanen »eine durch keinerlei Unterschiede
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[132/0155] Das Erbe der alten Welt. schärfer gedacht haben, als jemals andere Menschen, wozu die Eigen- tümlichkeit kam, dass bei ihnen das Fühlen und das Denken ergänzend zusammenwirkten. Ich nannte schon ihre Liebe zur Heimat. Das war ein Grund- zug des altrömischen Wesens. Es war nicht die rein intellektuelle Liebe der Hellenen, sangeslustig und überschäumend, doch leicht den verräterischen Eingebungen des Eigennutzes erliegend, auch nicht die wortreiche der Juden: man weiss, wie die Juden die »babylonische Gefangenschaft« so rührend besingen, von dem grossherzigen Darius aber mit Schätzen in die Heimat zurückgeschickt, lieber Geldopfer bringen und bloss die Ärmsten zur Rückkehr zwingen, als dass sie das fremde Land, wo es ihnen so gut geht, verlassen; nein, bei den Römern war es eine treue, wortkarge, durchaus unsentimentale, dabei aber zu jedem Opfer bereite Liebe; kein Mann und kein Weib unter ihnen zögerte je, das Leben für das Vaterland zu opfern. Wie erklärt man nun eine so übermässige Liebe? Rom war (in alten Zeiten) keine reiche Stadt; ohne die Grenzen Italiens zu überschreiten, konnte man weit fruchtreichere Gegenden sehen. Was Rom aber gab und sicherte, das war ein in sittlicher Beziehung menschenwürdiges Dasein. Die Römer haben nicht die Ehe erfunden, sie haben nicht das Recht erfunden, sie haben nicht den geordneten, Freiheit gewährenden Staat erfunden: das alles erwächst aus der menschlichen Natur und findet sich überall in irgend einer Form |und in irgend einem Grade; was aber die arischen Stämme unter diesen Begriffen als Grundlagen aller Sittlichkeit und Kultur sich vorstellten, hatte bis auf die Römer nirgends festen Fuss gefasst. 1) Waren die Hellenen zu nahe an Asien 1) Für die arischen Stämme speziell vergl. Leist’s vortreffliche: Gräco- italische Rechtsgeschichte (1884) und sein noch nicht beendetes Altarisches Jus civile, auch Jherings: Vorgeschichte der Indoeuropäer. Die ethnischen Forschungen der letzten Jahre haben aber mehr und mehr gezeigt, dass Ehe, Recht und Staat in irgend einer Form überall, auch bei den geistig zumindest entwickelten Wilden bestehen. Und das muss scharf betont werden, denn die Entwickelungsmanie und der pseudowissenschaftliche Dogmatismus unseres Jahrhunderts haben in die meisten populären Bücher durchaus erfundene Darstellungen hineingebracht, die, trotz der sicheren Resultate genauer Forschungen, gar nicht mehr hinauszubringen sind; diese Darstellungen dringen ausserdem von dort aus in wertvolle ernste Werke ein. In Lamprecht’s vielgenannter Deutscher Geschichte, Band I, z. B. finden wir eine angebliche Schilderung der gesellschaftlichen Zustände der alten Germanen, entworfen »unter den Auspizien der vergleichenden Völkerkunde«; hier wird von einer Zeit berichtet, in der bei den Germanen »eine durch keinerlei Unterschiede

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/155>, abgerufen am 23.11.2024.